In Rom zählt die Fastenzeit zu den besonders bewegten Zeiten im Kirchenjahr. An jedem Tag steht eine andere sogenannte Stationskirche im Mittelpunkt – und am Montag der ersten Fastenwoche ist es San Pietro in Vincoli.
Zwischen Pilgern, die hier die Messe besuchen, und Kunstliebhabern, die staunend Michelangelos Mose bewundern, entsteht eine fast greifbare Atmosphäre: Glaubenstradition trifft auf Renaissancekunst, und das alles inmitten antiker Mauern.
San Pietro in Vincoli, auch als Basilica Eudossiana bekannt, wurde im 5. Jahrhundert auf Veranlassung von Licinia Eudossia errichtet, um dort die Ketten des Apostels Petrus zu verwahren. Zuvor stand hier das bedeutende Kirchengebäude des Titulus Apostolorum. Die römische Matrone Licinia Eudossia war eine schillernde Persönlichkeit und vielleicht kein leuchtendes Beispiel für die Rolle der Frauen in der Kirche. Sie stiftete nämlich nicht nur die Basilika sondern rief 455 – aus welchem Grund auch auch immer - die gefürchteten Vandalen nach Rom.
Im Altarraum werden jene Reliquien aufbewahrt, die dem Gotteshaus den Namen gaben: Zwei Ketten – eine aus dem Gefängnis in Jerusalem, die andere aus dem römischen Mamertinischen Kerker – sollen sich beim Zusammenlegen wunderbarerweise verbunden haben. Papst Leo I. wird dieses Wunder zugeschrieben. Die Kirche gab über die Jahrhunderte winzige Stückchen oder Feilspäne als Reliquien dieser Ketten weiter. Diese sind heute in zahlreichen anderen Kirchen Europas zu finden. Bis 1960 wurde dieser Reliquien im liturgischen Fest „Petri Kettenfeier“ jeweils am 1. August gedacht.
Wer sich danach nach rechts wendet, steht vor dem Grabmal für Papst Julius II., dessen Herzstück die berühmte Statue des Mose von Michelangelo bildet. Die plastische Ausstrahlung seines Blicks und die fein ausgearbeiteten Bartsträhnen sind ebenso beeindruckend wie die beiden Hörner auf seinem Kopf. Dieses Hörner sind auf eine Schwierigkeiten der Übersetzung aus dem Hebräischen zurückzuführen. Dort war von „Strahlen“ die Rede, was in lateinischen Bibeltexten teils mit „hörnerartig“ übersetzt wurde.
Trotz des eher schlichten Gesamteindrucks birgt die Kirche viele bemerkenswerte Details: Zahlreiche antike Säulen, vermutlich aus umliegenden römischen Tempeln, strukturieren den Raum. In den Seitenschiffen sind Grabmäler wichtiger Kardinäle und eine ungewöhnliche byzantinisch anmutende Darstellung des heiligen Sebastian zu sehen. Das angrenzende Kloster und sein Kreuzgang – angeblich ein Werk von Giuliano da Sangallo – dienen heute als Fakultät für Ingenieurwesen der Universität La Sapienza. Der Brunnen im Innenhof, reich mit Masken verziert, gilt als inoffizielles Symbol der „Ingenieure von Rom“.
Gerade zu Beginn der Fastenwoche, wenn die Kirche ihre Rolle als Stationskirche einnimmt, spüren Besucher besonders intensiv die Verbindung von Geschichte und Spiritualität. Die Ketten des Petrus, die einst Hoffnung auf Befreiung symbolisierten, gewinnen in dieser Zeit eine zusätzliche, geistliche Bedeutung: Sie erinnern an den Neuanfang und die innere Wandlung, die die Fastenzeit einläutet.