Demokratie eröffnet Christen die Möglichkeit, ihre moralischen Perspektiven in der Öffentlichkeit offensiv einzubringen.
Demokratie eröffnet Christen die Möglichkeit, ihre moralischen Perspektiven in der Öffentlichkeit offensiv einzubringen.
Der Wiener Philosoph Hans Schelkshorn sieht durch neorechte Parteien die Demokratie in Europa bedroht. Was es für Christen heißt, Demokratie zu leben, erklärt er im SONNTAG-Gespräch.
Das politische und gesellschaftliche Gefüge Europas scheint derzeit in seinen Grundfesten zu wackeln.Die Bundestagswahl in Deutschland hat einen politischen Rechtsruck gebracht, die Unabhängigkeitsbestrebung in Katalonien scheint aus dem Ruder zu laufen und immer mehr Menschen bekennen sich offen zu Fremdenfeindlichkeit.
Angesichts dieser Eindrücke sprechen wir kurz vor der Nationalratswahl in Österreich am 15. Oktober mit dem Philosophen und Theologen Hans Schelkshorn.
Er appelliert an uns, dass wir uns das Wesen der Demokratie neu bewusst machen – gerade als Christen.
Wie demokratisch ist Österreich Ihrer Meinung nach?
Demokratie ist für mich eine politische Ordnung, in der ein Höchstmaß an Freiheit für den Einzelnen möglich ist.
Ich bin sehr froh, in Österreich zu leben. Wir haben durch ein Geschick des Zufalls nach 1945 die Möglichkeit erlangt, in einer Demokratie zu leben. Nur wenige Kilometer östlich in Ungarn haben die Menschen dieses Glück nicht gehabt.
Dass wir nicht für die Demokratie kämpfen mussten – hat das einen Einfluss auf uns bis heute?
Gerade die Entwicklungen der letzten 20, 30 Jahre zeigen, dass wir offenbar das hohe Gut der Demokratie nicht immer angemessen schätzen. Wenn demokratische Grundstrukturen wie Gewaltentrennung, Medienfreiheit usw. ausgehöhlt werden, gibt es in Österreich selten einen wirklichen Aufschrei.
Wo sehen Sie z. B. eine solche Entwicklung?
Eine große Gefahr für unsere westliche Demokratie geht gegenwärtig von neorechten Parteien aus.
Das Problem liegt nicht nur im Stil, z.B. der Mobilisierung von Ablehnung und Feindbildern. Neorechte Parteien haben einen ideologischen Kern, in dem die Universalität der Menschenrechte – ein Kernelement moderner Demokratien – in Frage gestellt wird.
Die Ideologie rechtspopulistischer Parteien ist bereits vor Jahrzehnten von Alain de Benoist, dem Begründer der Neuen Rechten in Frankreich entwickelt worden.
Worin besteht die neorechte Ideologie genau?
Alain de Benoist grenzt die neorechte Ideologie zunächst vom alten Faschismus ab. Erstens verfolgt die Neue Rechte nicht mehr das Ziel, die Demokratie gewaltsam abzuschaffen, sondern stellt sich dem demokratischen Wettbewerb.
Zweitens distanzieren sich neorechte Bewegungen vom alten Rassismus, also von der Unterscheidung zwischen Herrenrasse und Untermenschen.
Der Rassismus wird durch den sogenannten Ethno-Pluralismus, also der Anerkennung aller Ethnien (Völker) auf der Basis der Gleichberechtigung ersetzt.
Die Welt besteht für neorechte Bewegungen aus einem Pluriversum raumgebundener Völker und Kulturen. Zwischen den raumgebundenen Ethnien soll es möglichst keine Migration oder Wanderungsbewegungen geben.
Steckt da nicht auch ein rassistischer Kern dahinter?
Gewiss gibt es auch im Ethnopluralismus noch rassistische Elemente. Das Hauptproblem ist jedoch, dass der Ethnopluralismus quer zu den Globalisierungsprozessen der vergangenen 500 Jahre steht.
Europa war jahrhundertelang ein Auswanderungsland. Allein zwischen 1800 und 1930 sind ca. 60 Millionen Europäer ausgewandert. Europa hat zwei Kontinente, nämlich Nord- und Südamerika, erobert und besiedelt. Die Massenauswanderung setzte vor allem im 19. Jahrhundert ein, als Europa mit der Dynamik der Marktwirtschaft nicht mehr zu Recht gekommen ist. Daher ist die Idee eines Ethnopluralismus in gewisser Hinsicht ein Anachronismus und widerspricht der Geschichte der Neuzeit.
Wie sehen Sie den jetzigen Rechtsruck, gibt es eine neue Sehnsucht nach
einem „Führer“?
Neorechte Parteien haben eine ideologische Matrix, die man auch in ihren Parteiprogrammen nachlesen kann. Insofern gilt nicht einfach das Wort eines Führers.
Da jedoch bereits seit längerer Zeit offenbar kaum Perspektiven für den Umgang mit den großen Problemen der Menschheit zur Verfügung stehen, insbesondere für die sozialen Verwerfungen einer neoliberalen Globalisierung, aber auch für den Klimawandel, scheint mir, dass sich die politischen Hoffnungen der Menschen wieder verstärkt auf Personen konzentrieren, die als Lichtgestalten verklärt werden.
Wie kann es sein, dass ein Christdemokrat, Viktor Orban, zur Leitfigur der Neorechten wird?
Neorechte Bewegungen können an illiberale und antidemokratische Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anknüpfen.
Christliche Kirchen hatten lange Zeit ein großes Problem mit den demokratischen Aufbrüchen in der Moderne. Die katholische Kirche hat sich bekanntlich erst Mitte des 20. Jahrhunderts für die Demokratie geöffnet.
Aus diesem Grund ist in ultrakonservativen christlichen Kreisen zuweilen noch heute ein politisches Weltbild vorherrschend, in dem der Staat ausschließlich auf der christlichen Moral aufruhen muss.
Diese Haltung steht in einer deutlichen Spannung zu weltanschaulichen Pluralismus, den moderne Demokratien innerhalb bestimmter Grenzen zulassen.
Ergibt sich daraus nicht ein Gewissenskonflikt für Christen?
Der moralische Pluralismus moderner Demokratien mutet allen Bürgern schmerzliche Kompromisse zu.
Doch wir müssen uns stets bewusst bleiben, dass die Alternative ein autoritärer Staat ist, den neorechte Bewegungen heute auf einer völkischen Auslegung der Nation gründen. Gewiss, auch liberale Demokratien verbinden die universellen Menschenrechte mit dem Begriff der Nation. Das ist immer ein Spagat.
Bei allen schmerzlichen Kompromissen sollten sich jedoch Christen bewusst sein, dass die Menschenrechte auch christliche Wurzeln haben.
Wie ordnen Sie die deutsche AfD ein?
Neorechte Parteien in Europa sind sehr unterschiedlich. Sie haben allerdings eine gemeinsame Matrix, dieses völkische Element. Sie beziehen sich jeweils auf nationale Traditionen antiliberaler Orientierung. Jede Partei ist das Ergebnis von Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen. In der AfD ist das besonders sichtbar.
Ursprünglich war die AfD eine liberale Partei, die Transferzahlungen Deutschlands nach Griechenland verhindern wollte. Aber sie wurde in kurzer Zeit von neorechten Gruppierungen unterwandert und hat inzwischen eine sehr starke neorechte Ausrichtung. Dazu kommt, dass die AfD die jahrzehntelange Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland, die vorbildlich ist, in Frage stellt.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund den Wahlkampf in Österreich?
Ich vermeide eine direkte parteipolitische Einflussnahme. Mein Anliegen ist allein die Bewahrung der Demokratie. Daher warne ich vor neorechten Strömungen, die nicht nur in neorechten Parteien präsent sind. Dass diese Gefahr in Österreich kaum öffentlich diskutiert wird, macht mir Sorge.
Wie sehen Sie das Thema „Demokratie und Islam“?
Ich verteidige die Demokratie einerseits gegenüber neorechten Bewegungen, aber auch gegenüber anderen antidemokratischen Bewegungen, die sich auf andere religiöse Traditionen stützen.
Der Islam ist eine Weltreligion, die in zahlreichen Kulturen präsent ist, mit vielen unterschiedlichen Strömungen und politischen Bewegungen. Natürlich sind wir hier in Europa primär mit sehr extremen Strömungen aus dem Nahen Osten konfrontiert.
Die Entwicklung in der Türkei ist eindeutig in ein autoritäres System gemündet. Das sind ernsthafte Bedrohungen für demokratische Entwicklungen in der Welt, denen es entgegenzutreten gilt. Es hat aber keinen Sinn mit einer neorechten Ideologie, die selbst die Demokratie aushöhlt, die antidemokratischen Strömungen in islamischen Bewegungen kritisieren zu wollen.
Wir müssen aber auch die Augen offen halten für die demokratischen Bewegungen in islamischen Ländern, die in jüngster Zeit oft brutal unterdrückt werden. Zugleich gibt es auch Beispiele, dass Islam und Demokratie zusammengehen können, wie etwa in Indonesien. Dennoch möchte ich die enormen Probleme in der islamischen Welt nicht verharmlosen.
Wichtig ist, dass sich demokratische Kräfte in Europa mit den demokratischen Kräften in den islamischen Ländern solidarisieren. Aus diesem Grund sind die engen Beziehungen zwischen Europa und vor allem den USA zu Saudi-Arabien zu kritisieren.
Wie kann ich als Christ/Christin demokratiebewahrend wirken, ohne meinen Glauben in einem Pluralismus untergehen zu lassen und gleichzeitig auch nicht ausgrenzend zu sein?
Demokratie eröffnet Christen die Möglichkeit, ihre moralischen Perspektiven in der Öffentlichkeit offensiv einzubringen.
Christen sollten der Versuchung widerstehen, ihre moralische Position mit autoritären Mitteln durchzusetzen. Argumentative Praxis ist das Salz der Demokratie. Dies bedeutet, dass jeder seine eigene Position zur Disposition stellt.
Ohne argumentativen Dialog droht eine politische Kultur, in der politische Gruppierungen ihre Auseinandersetzungen nur mehr als einen Machtkampf inszenieren. Dies führt zu einem Verfall der Demokratie.
Johann Schelkshorn, geboren 1960 in Melk, ist Philosoph und römisch-katholischer Theologe.
Seit 2007 ist er Außerordentlicher Professor (ao. Prof.) am Institut für Christliche Philosophie und seit 2016 dessen Institutsvorstand. Schelkshorn ist auch Präsident der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WIGIP).
Eine ausführliche Reportage zum Thema Demokratie und Politik in Österreich
können Sie unter radioklassik.at/Demokratie nachhören.
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