Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 29. September 2024
Toleranz kommt vom lateinischen Wort „tolerare“, „ertragen“. Was müssen wir tolerieren, also ertragen, stehen lassen? Wo müssen wir aufstehen und sagen: Das geht zu weit? Das ist unerträglich! Hier ist eine Grenze erreicht, die nicht überschritten werden darf! Die Frage der Toleranzgrenze stellt sich in allen Lebensbereichen, vom Alltag der Familie über die Spannungen in der Arbeitswelt bis hin zu den internationalen Konflikten. Intoleranz anderen gegenüber gilt zu Recht als ein Zeichen der Schwäche und Enge. Sie verursacht viel Leid in den Beziehungen. Paulus sagt: „Ertragt einander!“ Aber wann sind die Grenzen des Ertragbaren erreicht? Es braucht auch den Mut und die Kraft zu sagen: Bis hierher und nicht weiter!
Beim Betrachten des heutigen Evangeliums ist mir aufgefallen, dass Jesus genau diese Spannung anspricht: Wo ist Toleranz angebracht? Wo hat sie klare Grenzen? Johannes, einer der zwölf Apostel, will in seinem Eifer für Jesus und seine Sache klare Grenzen ziehen. Er hat beobachtet, wie einer, der nicht zum Jüngerkreis Jesu gehört, den Namen Jesu gebraucht, um „eine Machttat“ zu vollbringen, Menschen vom Bösen zu befreien. „Wir versuchten, ihn daran zu hindern, weil er uns nicht nachfolgt.“ Die häufigste Form der Intoleranz ist es, alle die auszuschließen, die „nicht zu uns gehören“, die „Anderen“, Fremden, die nicht dieselbe Religion, Hautfarbe, politische Einstellung haben. Dahinter steht oft die (uneingestandene) Überzeugung, selber zu den Besseren zu gehören, die eigene Religion oder Partei, die eigene Familie oder das eigene Land für besser zu halten.
Dieser Eifer für das Eigene ist an sich nicht etwas Schlechtes. Johannes ist ein begeisterter Jünger Jesu. Muss er deshalb alle, die es nicht sind, ausschließen? Jesus sagt ein Schlüsselwort für echte Toleranz: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.“ Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein, was andere denken und tun, aber ein echtes Wohlwollen ihnen gegenüber ist die Basis für jedes gute Miteinander. Wer hat mehr und größeres Wohlwollen uns allen gegenüber als Jesus? Ihn sollen wir darin nachahmen.
Toleranz hat für Jesus freilich eine scharfe Grenze: das Ärgernis! Das Bild ist äußerst hart: Wer „einem von diesen Kleinen“ Ärgernis gibt, der sollte mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen werden. Dieses und die folgenden Bildworte sind Zuspitzungen, die den Ernst der Sache deutlich machen sollen. Ärgernis geben, skandalisieren (so heißt es wörtlich im griechischen Text): Da hört sich die Toleranz auf. Wann ist das erreicht? Darüber wird immer wieder debattiert. Die „Liberalen“ werfen den „Frommen“ vor, dass sie zu empfindlich seien und gleich „Skandal“ rufen, wenn etwas ihnen Heiliges angegriffen wird. Jesus gibt hier eine klare Weisung mit den drei schockierenden Bildworten vom Abhauen der eigenen Hand, des eigenen Fußes, vom Ausreißen des eigenen Auges: Was sagt es? Intolerant sollst du vor allem gegen deine eigenen Versuchungen und Fehler sein! Gegen sie darfst du schärfste Maßnahmen ergreifen. Denn seien wir ehrlich: Die Grenzen der Toleranz ziehen wir meist sehr viel enger den anderen gegenüber als gegen uns selbst. Das ist das eigentliche Ärgernis, der schlimme Skandal.
Markus 9,38-43.45.47-48
In jener Zeit sagte Johannes, einer der Zwölf, zu Jesus: Meister, wir haben gesehen, wie jemand in deinem Namen Dämonen austrieb; und wir versuchten, ihn daran zu hindern, weil er uns nicht nachfolgt. Jesus erwiderte: Hindert ihn nicht! Keiner, der in meinem Namen eine Machttat vollbringt, kann so leicht schlecht von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns. Wer euch auch nur einen Becher Wasser zu trinken gibt, weil ihr zu Christus gehört – Amen, ich sage euch: Er wird gewiss nicht um seinen Lohn kommen. Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde. Wenn dir deine Hand Ärgernis gibt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer. Und wenn dir dein Fuß Ärgernis gibt, dann hau ihn ab; es ist besser für dich, lahm in das Leben zu gelangen, als mit zwei Füßen in die Hölle geworfen zu werden. Und wenn dir dein Auge Ärgernis gibt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.