Nicht der Tod ist die Scheidelinie, sondern der Glaube.
Nicht der Tod ist die Scheidelinie, sondern der Glaube.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium zu Allerseelen,
2. November 2008 (Joh 5,24-29)
Wo sind sie geblieben? Geht es nur mir so, dass mich diese Frage bewegt? Sie begleitet mich fast ständig. Sie bohrt in mir, wenn ein mir naher, lieber Mensch stirbt. Wo ist er jetzt? Wie ist das „drüben“? Wie kann man sich das „ewige Leben“ vorstellen? Ist es vielleicht eine fromme Täuschung, mit der wir uns über die harte Tatsache hinwegschwindeln, dass es mit dem Tod einfach aus ist?
Ganz aus! Nichts danach! So denken heute nicht wenige. Aber die Menschheit hat in ihrer langen Geschichte nie so gedacht. Immer haben unsere Vorfahren, bis in die fernste Urzeit, an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Sonst hätten sie ihre Toten nicht bestattet und ihnen Beigaben in die Gräber mitgegeben, Zeichen, dass sie annahmen, die Toten lebten weiter.
Heute, an Allerseelen, das mit dem Sonntag, dem Tag der Auferstehung Jesu zusammenfällt, können wir Jesus diese Frage stellen: Wo sind die Toten geblieben? Er kann ja Auskunft geben, weil er aus der Ewigkeit Gottes kommt. Er weiß, wie es „drüben“ ist. Er ist der sicherste Bote aus der Welt des Jenseits.
Das erste Überraschende, das Jesus uns als Botschaft bringt, dreht unsere Vorstellungen von „Diesseits“ und „Jenseits“ völlig um. Er sagt: „Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben.“ Das ewige Leben fängt nicht erst „drüben“ an, sondern schon hier und jetzt. Jesus sagt es noch deutlicher: Wer glaubt, „ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“.
Tod und Leben, Diesseits und Jenseits, Himmel und Gericht spielen sich alle schon jetzt ab. Das stellt unsere Vorstellungen ganz auf den Kopf. Nicht der Tod ist die Scheidelinie, sondern der Glaube. Wer glaubt, wer auf Gott vertraut und Jesu Wort annimmt, der hat schon den Schritt vom Tod zum Leben getan. Der Himmel beginnt auf Erden, und leider auch die Hölle. Wo Glaube, Hoffnung, Liebe gelebt werden, da ist schon ein Stück Himmel auf Erden. Wo das Gegenteil herrscht, da ist wirklich die Hölle los.
Ich glaube, das können wir verstehen, weil es wirklich erfahrbar ist. „Der Glaube ist der Anfang der seligen Gottesschau“, sagt der hl. Thomas von Aquin (+1274), der große Theologe. Wer glaubt, trägt Gott im Herzen, jetzt schon. Wer die Liebe lebt, der trägt schon den Keim des ewigen Glücks in sich, denn die Liebe hört niemals auf, auch der Tod kann sie nicht vernichten. Deshalb stimmt es wirklich, dass das ewige Leben schon jetzt beginnt.
Das ist alles schön und recht. Aber sterben müssen wir trotzdem. Wo sind die Toten nun wirklich? Jesus ist dieser Frage nicht ausgewichen. Er hat sie ganz persönlich beantwortet. Und seine Antwort ist ein großer Trost: „Die Stunde kommt, und sie ist schon da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und alle, die sie hören, werden leben.“
Jesus sagt also: Ich selber werde mich um die Toten kümmern! Ich selber werde jeden bei seinem Namen rufen. Ich selber werde allen, die meinen Ruf hören und annehmen, das ewige Leben geben! Ich weiß nicht, wo die Toten sind. Sie haben ja keinen Ort mehr, sind nicht mehr wie wir in Raum und Zeit. Aber eines glaube ich fest: Jesus nimmt sich ihrer an. Er vergisst keinen. Wenn wir Ihn nicht vergessen, auf Ihn schon jetzt hören und mit Ihm gehen, brauchen wir dann, wenn’s zum Sterben kommt, weder Tod noch Gericht zu fürchten.
Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat das ewige Leben; er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen.
Amen, amen, ich sage euch: Die Stunde kommt und sie ist schon da, in der die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden; und alle, die sie hören, werden leben. Denn wie der Vater das Leben in sich hat, so hat er auch dem Sohn gegeben, das Leben in sich zu haben.
Und er hat ihm Vollmacht gegeben, Gericht zu halten, weil er der Menschensohn ist. Wundert euch nicht darüber!
Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören und herauskommen werden: Die das Gute getan haben, werden zum Leben auferstehen, die das Böse getan haben, zum Gericht.