Herr, rette mich!
Herr, rette mich!
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 19. Sonntag im Jahreskreis,
7. August 2011 (Mt 14,22-33)
Eine Nacht besonderer Art, die ihnen unvergesslich blieb! Die Jünger Jesu hatten einen langen Tag hinter sich. Eine Menschenmenge hatte sich am Ufer des Sees Genezareth eingefunden, um Jesus zu hören, zu sehen, um vielleicht Heilung von Krankheiten zu erlangen. Lange hatte Jesus zu ihnen gesprochen, und am Abend hat er mit nur fünf Broten und zwei Fischen der Masse übergenug zu essen gegeben, riesen Mengen sind übrig geblieben.
All das hatten seine Jünger erlebt. Jetzt schickte Jesus sie heim über den See. Er blieb allein zurück, um die Leute zu verabschieden und in der Stille der Nacht zu beten. Von dem Berg, wo Jesus sich zurückzog („Berg der Seligpreisungen“), hat man eine großartige Sicht über den ganzen See. Jesus kann also das Boot sehen, im heftigen Gegenwind.
Hier steige ich gewissermaßen selber in die Geschichte ein. Ich möchte Jesus eine Frage stellen: Herr, Du siehst, wie sie sich abmühen, gegen Wind und Wellen – und hilfst ihnen nicht? Sie plagen sich – und Du betest! Du weißt, wie mühsam es für sie ist – und lässt sie rudern bis zur 4. Nachtwache! Fast bis zum Morgengrauen! Praktisch die ganze Nacht!
Dabei kommt mir die Frage: Herr, warum lässt Du uns, mich, so oft so lange mühsam rudern – scheinbar ohne zu helfen? Wie viele Menschen müssen sich abrackern, sich schinden im Alltag, in ihren Nächten – Du weißt es, Du siehst es! Warum greifst Du nicht ein? Warum wartest Du die ganze Nacht ehe Du uns zu Hilfe kommst?
Heißt Deine Antwort vielleicht: Ich habe dich gesehen, wie du dich abplagst. Ich habe nicht weggeschaut. Ich habe die ganze Zeit für dich gebetet, dich in meinem Gebet getragen, damit du nicht untergehst und durchhältst. In mühsamen Momenten hilft es, daran zu denken: Herr Du trittst für mich ein!
Ich versuche mir vorzustellen, wie es weiterging. In der 4. Nachtwache, kurz vor dem Morgengrauen – eine Stunde ganz eigener Stimmung – kommt Jesus über den See, auf dem Wasser, auf sie zu. Schiere Panik erfasst diese erfahrenen Männer: „sie schrien vor Angst“! Erst als er sie anspricht erkennen sie, dass es nicht ein Gespenst ist: „Habt Vertrauen, ich bin es, fürchtet euch nicht“.
Hier kann ich wieder in die Geschichte einsteigen, mit den Jüngern im Boot sein. Panik, Schrecken sind mir nicht unbekannt. Ich erinnere mich an eine solche Nacht, tief in Indien, mit 42 Grad Fieber: Hier kommst du nicht lebend heraus! Todesangst. Alles fremd, weit vom sicheren zu Hause. Und da, gegen Morgen, „um die 4. Nachtwache“ – die Erfahrung einer tröstenden Gegenwart. Es war als sagte der Herr selber zu mir: „Hab Vertrauen, ich bin es, fürchte dich nicht.“ Kann das heutige Evangelium nicht dazu anregen, einander solche Erfahrungen zu erzählen? So taten es die Jünger. Sie haben es weitererzählt, sie haben sich nicht gescheut, ihre Angst einzugestehen. Umso beeindruckender, wenn sie berichten, wie sie die Nähe Jesu erleben durften.
Besonders Petrus! Er wagt sich aufs Wasser hinaus, will wie Jesus übers Wasser gehen, auf Ihn zu. Und muss erleben, dass sein Glaube noch sehr schwach ist. Hier kann ich mich hinter Petrus einreihen. Wie oft erlebe ich, dass Jesus mir sagen muss: Du Kleingläubiger! Ja, in dem Evangelium hat viel von meinem eigenen Leben Platz!
Nachdem Jesus die Menge gespeist hatte, forderte er die Jünger auf, ins Boot zu steigen und an das andere Ufer vorauszufahren. Inzwischen wollte er die Leute nach Hause schicken. Nachdem er sie weggeschickt hatte, stieg er auf einen Berg, um in der Einsamkeit zu beten.
Spät am Abend war er immer noch allein auf dem Berg. Das Boot aber war schon viele Stadien vom Land entfernt und wurde von den Wellen hin und her geworfen; denn sie hatten Gegenwind.
In der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen; er ging auf dem See. Als ihn die Jünger über den See kommen sahen, erschraken sie, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrien vor Angst. Doch Jesus begann mit ihnen zu reden und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht! Darauf erwiderte ihm Petrus: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme. Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und ging über das Wasser auf Jesus zu.
Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen. Er schrie: Herr, rette mich! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?
Und als sie ins Boot gestiegen waren, legte sich der Wind. Die Jünger im Boot aber fielen vor Jesus nieder und sagten: Wahrhaftig, du bist Gottes Sohn.