Jesus lehrt uns den aufmerksamen Blick, der nicht auf das Äußere schaut, sondern auf das Herz, die Gesinnung.
Jesus lehrt uns den aufmerksamen Blick, der nicht auf das Äußere schaut, sondern auf das Herz, die Gesinnung.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 32. Sonntag im Jahreskreis,
11. November 2012 (Mk 12,38-44)
Diese kleine Szene hat einen wichtigen Platz im Leben Jesu. Sie sagt so viel über ihn selber, um was es ihm ging, was er den Seinen sagen wollte, damals wie heute. Es ist gut, sich in die Situation hineinzuversetzen, sie sich lebhaft vorzustellen.
Im Tempel in Jerusalem gab es einen großen "Opferstock", in dem die vielen Tausenden Besucher des Heiligtums ihre Spenden warfen. Jesus hatte sich dort in der Nähe hingesetzt und beobachtete das intensive Treiben, das Kommen und Gehen der Pilger und Beter. Die Jünger waren inzwischen irgendwo unterwegs. Gleich nach dieser Szene wird berichtet, dass sie zu Jesus voll Staunen und Bewunderung über die Schönheit des Tempels sprachen.
Es muss etwas Gewaltiges gewesen sein, der Eindruck, die Pracht des Jerusalemer Tempels. Eine Ahnung davon geben immer noch die gewaltigen Mauern des Tempelfundaments, die Herodes der Große erbauen ließ. Die sogenannte "Klagemauer", einer der heiligsten Orte des Judentums, gibt bis heute ein beredtes Zeugnis von der imposanten Größe des Tempels.
Jesus liebte diesen Ort. Er nannte ihn "das Haus meines Vaters". Oft hat er dort zu den Menschen gesprochen. Er wollte nicht, dass der Tempel zu einem Marktplatz des Geschäftemachens herabgewürdigt würde. Er sollte ein Haus des Gebetes bleiben. Wie schön wäre es, wenn das von all unseren Kirchen gesagt werden könnte.
Unter den vielen, die ihre Gaben in den "Opferkasten" werfen sieht Jesus eine arme Witwe. Mich beeindruckt, dass Jesus sie sieht. Wie oft übersehen wir die Armen, die "Kleinen Leute", schauen auf die, die vor den Menschen Bedeutung haben und bemerken gar nicht die, die unscheinbar sind.
Jesus lehrt uns den aufmerksamen Blick, der nicht auf das Äußere schaut, sondern auf das Herz, die Gesinnung. Diese arme Witwe hat nicht viel zu bieten: Zwei Kupfermünzen wirft sie in den Opferstock, nicht der Rede wert. Jesus weiß – weil er uns Menschen durch und durch kennt – dass diese Witwe alles gegeben hat, was ihr zum Lebensunterhalt blieb. Sie hat wirklich viel mehr gegeben als die Reichen, denn die haben das Opfer nicht gespürt. Sie hat alles gegeben, was sie hatte: Eine Tat völligen Vertrauens auf Gott, der ihr in ihrer Mittellosigkeit helfen wird.
Jetzt ruft Jesus seine Jünger zusammen und zeigt ihnen diese arme Frau. Er macht ihnen deutlich, dass sie größer und schöner ist als alle Pracht des Tempels. Der Tempel wurde im Jahr 70 von den Römern zerstört. Aber bis heute leuchtet das Vorbild dieser armen Frau. Da ist eine scheinbar kleine, unbeachtete gute Tat größer als alle Pracht der Welt. Jesus will uns mit seinen Augen sehen lehren.
Als Jesus im Tempel dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein.
Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern.
Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt.