Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Sonntagsevangelium vom 14.9.2025
Heute vor 30 Jahren habe ich das Amt des Erzbischofs von Wien übernommen. Es war damals und ist auch heute das Fest der Kreuzerhöhung. Ich habe also damals meinen Dienst unter den Zeichen des Kreuzes begonnen. War das etwas Schlimmes oder etwas Ermutigendes? Wie kann man etwas so Schreckliches wie das Kreuz eigens mit einem Fest feiern? Andererseits ist das Kreuz, wenn es für den riesigen Bereich menschlichen Leidens steht, der Ausdruck und das Zeichen für eine Wirklichkeit sein, die weithin unser Leben bestimmt: die Allgegenwart des Leids! Hat das Christentum mit dem Kreuz, mit seiner Allgegenwart, das Leiden gar verherrlicht?
Heute, an diesem für mich auch persönlich berührenden Jahrestag, versuche ich, ein wenig über die zwiespältige Gefühle gegenüber dem Thema Kreuz nachzudenken. In den ersten drei Jahrhunderten des Christentums war es klar, dass das Kreuz ein grausames Marterwerkzeug war, an dem nicht nur Jesus, sondern auch viele seiner Anhänger qualvoll gestorben sind. Trotzdem wuchs die Zahl der Christen unaufhörlich. Das veranlasst schließlich Kaiser Konstantin, dem Christentum im römischen Reich die Tore weit zu öffnen. Seinen militärischen Sieg über seinen Rivalen schrieb er dem Kreuz zu: „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ sagte ihm eine himmlische Vision. Seither wurden viele Kriege unter dem12. und 13. Jahrhunderts waren der Versuch, die Geburtsstätte des Christentums, das Heilige Land, zurückzuerobern. So wundert es nicht, dass im Islam das Kreuz von vielen abgelehnt wird. Es erinnert zu sehr an die Kreuzfahrer. Umgekehrt wurde für viele Christen das Kreuz zum Zeichen des Widerstands gegen die islamischen Eroberungen. All das spielt bis in die Gegenwart eine Rolle. Doch sollten wir alle, Gegner und Freunde des Kreuzes, uns nicht von den Fesseln der Vergangenheit daran hindern lassen, einander neu und frei zu begegnen.
Dazu empfehle ich einen frischen Zugang. Am 15. September, morgen, feiert die Kirche das Gedächtnis der Schmerzen Marias. Wir erinnern uns an das Leid, dass Maria mit ihrem Sohn Jesus erlitten hat. „Bei dem Kreuz Jesus stand seine Mutter“, zusammen mit anderen Frauen so berichtet als Augenzeuge der Apostel Johannes. Sie haben Stand gehalten, ausgeharrt, mit Jesus mitgelitten. Zu den ergreifendsten Momenten gehört, dass Jesus vom Kreuz aus seine Mutter dem Johannes anvertraut hat und Johannes ihr als ihren Sohn.
Es gibt zwei Arten, das Kreuz zu sehen: als Zeichen des Kampfes oder als Zeichen des Mitleidens. Für Jesus war es das zweite. Die Worte des heutigen Evangeliums sehe ich als den tiefsten Grund, warum das Kreuz eine so große Kraft des Trostes haben kann: „Gott hat die Welt so sehr geliebt dass er seinen einzigen Sohn hin gab, damit jeder der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat“. Es gibt kein Leben ohne Leid und Tod, also ohne Kreuz, das Zeichen für Leid und Tod. Es gibt aber viel Leid, das verdrängt, verleugnet, verharmlost, übersehen, übergangen wird. All das macht das Leid noch viel schwerer. Einer der das Leid nicht verdrängt hat, war Henry Dunant (1828 - 1910). Es hat mich schon in meiner Schulzeit fasziniert. Er sah die schrecklichen Zustände der Verwundeten in der Schlacht von Solferino 1859. Das ließ ihn nicht ruhen. Auf ihn geht die Gründung des roten Kreuzes zurück. So ist das Kreuz Jesu richtig verstanden! In der islamischen Welt wurde daraus der rote Halbmond. Beiden geht es gemeinsam um den guten Kampf gegen das Leid. Er verbindet über alle alten Feindschaften hinweg.
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes.
In jener Zeit sprach Jesus zu Nikodémus: Niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.