Heinrich Böll: Dass sonntags Millionen die Kommunion empfangen, aber nicht verändert werden, frustrierte ihn zutiefst.
Heinrich Böll: Dass sonntags Millionen die Kommunion empfangen, aber nicht verändert werden, frustrierte ihn zutiefst.
Heinrich Böll erhielt als erster deutschsprachiger Katholik den Litertaturnobelpreis (1972). Am 21. Dezember jährt sich der Geburtstag des großen Schriftstellers zum 100. Mal. Worin ist Heinrich Böll in seinem Denken für uns heute aktuell? Dazu befragte der SONNTAG, die Zeitung der Erzdiözese Wien, den Schweizer Theologen Christoph Gellner. Er ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts in Zürich und Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die „Religion in der Gegenwartsliteratur“.
In welchen Punkten ist Heinrich Böll für uns heute von Aktualität (gilt er nicht z.B. als Kritiker einer materialistisch ausgerichteten Konsumgesellschaft)?
Christoph Gellner: Dass er den kaum mit unserer heutigen Wohlstandssaturiertheit vergleichbaren Konsumismus des sog. Wirtschaftswunders kritisierte, zeigt, dass Böll auf zeitsensible Weise unzeitgemäss war.
Bewusst hat er in seiner Nobelpreisvorlesung für die „Abfälligen“ der Gesellschaft Partei ergriffen und sich jener Literaturströmung zugerechnet, die sich für „ganze Provinzen von Gedemütigten, für menschlichen Abfall Erklärten“ zuständig weiß.
Dabei liegt Bölls Rang nicht nur in seiner moralischen Qualifikation als streitbarer Zeitgenosse und ‚guter Mensch von Köln‘ – Ilija Trojanow hat sich in seiner Dankrede zum Heinrich-Böll-Preis jüngst selbstbewusst zu solchem ‚Gutmenschentum’ bekannt –, sondern in der Meisterschaft seines aufklärerisch-realistischen Erzählens.
Sie kann mit wachsendem Abstand zu den damaligen Auseinandersetzungen neu entdeckt werden wie Bölls ganz eigenwilliger literarischer Katholizismus.
Die ausgrenzend-hasserfüllten Schmähungen, die Böll als engagierter Autor und gläubig-institutionenkritischer Linkskatholik erfuhr, mögen Nachgeborenen fremd vorkommen wie von einem anderen Stern.
Inwiefern ist Böll auch für die Kirche heute aktuell?
Die kultur- und gesellschaftsbestimmende Macht institutionalisierter Religion, denken Sie nur an die Amtskirche samt Milieu-und Verbandskatholizismus, ist in einem zu Bölls Lebzeiten kaum erwartbaren Ausmaß zurückgegangen.
Das hat ganz neue Freiräume für Kunst und Literatur eröffnet, unbefangen Religiöses und Spirituelles zu thematisieren ohne Angst vereinnahmt zu werden.
Bleibend aktuell scheint mir Bölls ganz aufs Jesuanische konzentrierte Gesellschaft-, Kirchen- und Christentumskritik, der er gerade im Rückgriff auf die Bibel immer wieder religiöse Tiefenschärfe verlieh. Wird heute nicht etwas von Bölls jesuanischem Christentums der kirchlich randständigen, ungläubig Gläubigen spürbar und neu brisant, wenn Papst Franziskus die gegenleistungsfreie Barmherzigkeit stark macht gegen die Engherzigkeit abstrakter Doktrinen?
Böll war kaum zufällig überzeugt, „dass 800 Millionen Christen auf dieser Erde das Antlitz dieser Erde verändern könnten“.
Wie lässt sich die Religiosität Heinrich Bölls kurz zusammenfassen? Was war ihm da wichtig? Wie lebte er den Glauben?
Zu Recht nannte der mit Böll befreundete evangelische Pastor Heinrich Albertz ihn „Poet in der Nähe Jesu“. Jesus ist die durchgehend große Bezugsgestalt für ihn, ein fester Kompass schon gegenüber Hitler und in der Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg, da gibt es eindringliche Briefzeugnisse an seine Frau.
„An der Gegenwart des Menschgewordenen werde ich nie zweifeln“, hat Böll 1973 auf die Frage geantwortet: Wer ist Jesus von Nazaret – für mich? „Mir scheint die Trennung des Jesus vom Christus wie ein unerlaubter Trick, mit dem man dem Menschgewordenen seine Göttlichkeit nimmt und damit auch allen Menschen, die noch auf ihre Menschwerdung warten.“
Selbst als er 1976 aus der öffentlichen Körperschaft Kirche austrat, fühlte er sich weiterhin dem mystisch-spirituellen corpus Christi zugehörig.
Zugleich bemühte sich Heinrich Böll schon vor 50 Jahren, die von realen Lebensvollzügen weithin abgelösten Sakramente alltagspraktisch zu konkretisieren.
Wie in keinem anderen Roman erscheint in „Gruppenbild mit Dame“ Sakrales säkularisiert und Profanes sakralisiert. Das Spirituelle verleiblicht sich im Materiellen wie das Göttliche im zwischenmenschlich Sinnlichen – solche Aufmerksamkeit für die Heiligkeit des Alltags ist hochaktuell!
Welches Buch von Heinrich Böll schätzen Sie persönlich am meisten und warum?
Neben „Ansichten eines Clowns“ und „Billard um halb zwölf“ nenne ich gerne „Frauen vor Flusslandschaft“. Diese kurz nach Bölls Tod erschienene Real-Groteske wirft einen alterszornigen Blick auf Macht und Geld als Gesetz von Kirche, Staat und Wirtschaft.
Dem schauhaft-demonstrativen Leere von Amtskirche, Politik, Justiz und Medien ist ein imaginäres Kraftzentrum gegenübergestellt, das nur in der Geste des in den Sand schreibenden Jesus beschworen wird: der Anwalt der unmoralischen Sünder als Störfaktor und Garant der Menschlichkeit in unmenschlicher Gesellschaft.
Können Sie in wenigen Worten Ihren Forschungsschwerpunkt „Religion in der Gegenwartsliteratur“ beschreiben?
Angesichts der „ausgeglaubten“ Kirchensprache ist für mich als Theologe die Spracharbeit der Dichter wichtig. Zudem ist es spannend, der neuen Aufmerksamkeit für Gott und Religiös-Spirituelles im Raum zeitgenössischer Literatur nachzugehen wie in meinem Buch „…nach oben offen. Literatur und Spiritualität“. Einen hochaktuelles Thema bilden die Weltreligionen, neben fernöstlich-asiatischer Religiosität interessiert mich vor allem der Islam in der eben erst entstehenden deutsch-muslimischen Literatur („Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten“).
zur Person
Dr. theol. Christoph Gellner, Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts in Zürich und Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern
Heinrich Böll, Der gläubige Kirchenkritiker
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