"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben - und deinen Nächsten wie dich selbst."
"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben - und deinen Nächsten wie dich selbst."
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 30. Sonntag im Jahreskreis, 23. Oktober 2005,
(Mt 22, 34-40)
Welches ist das wichtigste Gebot? Diese Frage stellte sich nicht nur im Judentum zur Zeit Jesu. Die Schriftgelehrten, gute Kenner der Bibel, hatten über 600 Gebote zusammengezählt, die über die ganze Heilige Schrift verstreut zu finden sind. Da gibt es die Regeln für das Zusammenleben der Menschen in Ehe, Familie, in der Arbeit, bei Kauf und Pacht, in Krankheit und Not. Da gibt es Vorschriften für den Umgang mit Fremden, Abhängigen, Schuldnern. Und natürlich die vielen Gebote für die Gottesbeziehung, für Gebet, Kult, Tempel, Feste, religiöse Bräuche und - auch schon damals - die Abgaben für die Priester und den Gottesdienst, was heute bei uns der "Kirchenbeitrag" ist (damals immerhin 10 Prozent, der "Zehent" aller Erträge, heute nur rund 1 Prozent des versteuerbaren Einkommens).
Es waren verwirrend viele Gesetze, Regeln, Vorschriften, Gebote. Freilich, im Vergleich zu der Gesetzesflut des modernen Staates waren das damals immer noch recht wenige. Wir sind heute in mancher Hinsicht viel "reglementierter" als die Menschen früherer Zeiten.
Was aber ist in diesem Wirrwarr an Weisungen wirklich wesentlich? Gibt es eine Rangordnung der Gebote? Gibt es ein Gebot, das alle anderen enthält, so dass die Befolgung dieses einen alle anderen mit einschließt? Gibt es ein Gebot, das uns "eins" macht, wenn wir danach leben? Ein Gebot, das uns sammelt, uns eine Mitte gibt, um die sich alles andere ordnen kann?
Die Antwort Jesu ist so bekannt, dass wir uns schon zu sehr daran gewöhnt haben. Es gilt, sie ganz neu zu hören: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben - und deinen Nächsten wie dich selbst." Am "Liebesgebot", so sagt Jesus, "hängt das ganze Gesetz". Eigentlich ganz klar: "Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu. So ist die Liebe die Vollendung des Gesetzes", argumentiert der Apostel Paulus. Und er liefert gleich die Gegenprobe: Nimm die Liebe weg, und alles andere wird leer und schal. Eine Gerechtigkeit ohne Liebe wird zur Härte; Klugheit ohne Liebe wird zur listigen Schlauheit; Mut ohne Liebe wird zur Waghalsigkeit; Sex ohne Liebe ist lieblose Lust, die bald auch lustlos wird. Nichts geht gut ohne die Liebe. Alles gelingt, wenn die Liebe der Motor ist. Dann wird der Eifer nicht zum Fanatismus, dann wird die Hilfe für andere nicht zur eitlen Selbstdarstellung, dann wird auch die Sexualität zum Ausdruck des Ja zum Anderen.
Das Ja zum Anderen: Das ist vielleicht die treffendste Definition der Liebe. Der Heilige Augustinus sagt einmal: "Liebe, das heißt: Ich will, dass du bist." Knapper geht es nicht. Im Lateinischen ist es noch kürzer: Volo ut sis!
Wer zeigt, was das heißt? Liebe braucht Erfahrung. Worte genügen nicht. Wer zu mir zuerst gesagt hat: "Ich will, dass du bist", der hat mich zuerst geliebt. Gott hat das zu mir gesagt, als meine Eltern noch nicht wussten, dass sie mich empfangen haben. Er hat uns zuerst geliebt. Daher sollen wir auch Gott zuerst lieben. Nicht nur ein bisschen, sondern mit allen Kräften von Seele und Leib.
Aber Gott ist unsichtbar. Wie weiß ich, ob ich ihn liebe? Nur durch das zweitgrößte, gleich große Gebot: die Nächstenliebe! Sie ist der Beweis der Gottesliebe. Dass Gott uns zuerst geliebt hat, erfahren wir durch Menschen, die zu uns Ja sagen. Von Gott aber bekommen wir die Kraft zu lieben. Weil Er die Liebe ist.
In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen.
Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?
Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.