Was mich wirklich schreckt, ist die Gefahr, an Gott vorbeizuleben, der auf mich im Nächsten wartet. Was mich wirklich tröstet, ist die Zusage Jesu, dass alle die vielen, zahllosen kleinen Aufmerksamkeiten nicht verloren sind.
Was mich wirklich schreckt, ist die Gefahr, an Gott vorbeizuleben, der auf mich im Nächsten wartet. Was mich wirklich tröstet, ist die Zusage Jesu, dass alle die vielen, zahllosen kleinen Aufmerksamkeiten nicht verloren sind.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den Christkönigssonntag, 20. November 2005,
(Mt 25, 31-46)
Das liturgische Jahr, das „Kirchenjahr“ geht zu Ende. Es ist kaum zu glauben: Der nächste Sonntag ist bereits der erste Adventsonntag. Man sagt, dass mit dem Älterwerden die Zeit schneller vergeht. So empfinden es zumindest viele Menschen. Mit sechzig ist ein Jahr nur ein Sechzigstel des Lebens. Mit sechs Jahren ist es noch ein Sechstel der ganzen erlebten Zeitspanne. Daher kommt wohl der Eindruck, dass die Jahre immer schneller dahinsausen, „wie ein Weberschiffchen“, sagt die Bibel.
Jedes Jahr bringt uns alle einen Schritt näher zu dem, was heute im Evangelium angesprochen ist: dem letzten Gericht. Jesus spricht von seiner Wiederkunft und vom Weltgericht. Das „Jüngste Gericht“ hat die Phantasie der Künstler früherer Jahrhunderte beflügelt. Die wohl berühmteste Darstellung ist Michelangelos monumentales Fresko an der Stirnwand der Sixtinischen Kapelle im Vatikan.
Vor diesem gewaltigen Gemälde haben wir Kardinäle am 18. und 19. April dieses Jahres unsere Stimmen in die Urne der Papstwahl gelegt. Wir sahen Christus, den Weltenrichter, in der Mitte, zu seiner Rechten die Geretteten, die zum Himmel aufsteigen. Zu seiner Linken die Verdammten, die zur ewigen Strafe hinabstürzen.
So beeindruckend, ja packend diese Darstellung ist, so sehr sie die Gewissen aufrütteln will, das heutige Evangelium führt uns doch in eine recht andere Bildwelt als die des großen Michelangelo. Das große Weltgericht findet nicht erst am „Jüngsten Tag“ statt. Es hat schon längst begonnen. Es geschieht täglich. Am Ende der Tage wird es sozusagen nur noch veröffentlicht.
Was am Ende der Zeit zu Tage tritt, ist für die Betroffenen neu. Sie wussten gar nicht, dass das Jüngste Gericht schon stattgefunden hat. Sie sind überrascht. So stellt es Jesus zumindest dar. Und damit will er seine Hörer aufwecken. Denn im Endgericht kann es sich keiner mehr richten. Dann ist es zu spät. Die Entscheidung fällt jetzt, wir dürfen sie nicht versäumen.
„Was ihr für einen dieser Geringsten (nicht) getan habt, das habt ihr mir (nicht) getan.“ Was mich an diesem Evangelium schreckt, ist das Gewicht des Versäumten. Die Verdammten haben nicht böse Taten getan, sondern gute unterlassen. Sie haben sie einfach übersehen. Da war ein Kranker, und sie haben sich nicht die Zeit genommen, ihn zu besuchen. Eine Not leidende Nachbarin - einfach versäumt, ihr zu helfen. Hungernde Kinder - nichts mit ihnen geteilt. Ein Gefangener im Strafvollzug oder in den Fängen eigener Sucht und Not - keine Aufmerksamkeit für ihn aufgebracht.
Was mich wirklich schreckt, ist die Gefahr, an Gott vorbeizuleben, der auf mich im Nächsten wartet. Was mich wirklich tröstet, ist die Zusage Jesu, dass alle die vielen, zahllosen kleinen Aufmerksamkeiten nicht verloren sind. Was wird das für eine schöne Überraschung sein, wenn Jesus dir sagt: Erinnerst du dich, wie du mir damals geholfen hast, als es mir ganz schlecht ging? Wann? Ich dir geholfen? Ja, wird Jesus sagen: Der Not leidende Nachbar, der war ich. Komm, komm jetzt mit mir ins Ewige Leben. Denn damals schon fand dein Jüngstes Gericht statt.
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.
Und alle Völker werden von ihm zusammengerufen werden, und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken.
Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Erde für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.
Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er sich an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?
Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.
Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.