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01.08.2019 · Glaube · Beichte

„Das Böse wandelt immer sein Gesicht“

Reinhard Haller: „Das Böse hört nie auf und tritt in unterschiedlichen Formen zutage.“

Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller im Sommergespräch. Über das Böse und die Wirkkraft der Wertschätzung.

 

 

Die kriminellen Seiten von Menschen sind ihm gut bekannt. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller hat als Gerichtssachverständiger u.a. Gutachten in den Fällen des Serienmörders Jack Unterweger und des Briefbombenbauers Franz Fuchs erstellt.

 

Seine Sachbücher zur Thematik sind Bestseller. Hält er Vorträge, sind die Säle meistens zu klein. Wir treffen ihn in der Früh, nachdem er am Vorabend bei den „Theologischen Kursen“ referiert hat. Haller sagt dem Gespräch zu. Beim nächsten Wienbesuch ist es soweit.


Wer sich viel mit dem „Bösen“ beschäftigt, hat wohl wenig Angst, würde man meinen.  Haller bekennt aber: „Ich bin eher ängstlich erzogen worden. Das hat sich auf meine Wesensart und auf meine Grundhaltung ausgewirkt. Ich war immer ein ängstlicher Mensch – schon in der Kindererziehung und bin es bis heute.

 

Angst ist für mich nicht von vornherein etwas Schlechtes. Sie hat eine gewisse Schutzfunktion, aber darf nicht zu stark sein. Angst sollte ein Wachhund in unserem Leben sein, aber niemals zu einem reißenden Wolf werden.“


Ängstliche Menschen sind wohl vorsichtiger?

Angst kann aber durchaus auch etwas Bedrückendes sein. Etwas, was Menschen die Lebensfreude nimmt, was sie lähmt, was sie manchmal auch misstrauisch macht und kein Vertrauen mehr zulässt.

 

Wir alle müssen diese psychischen Phänomene neutral betrachten. Sie sind nicht gut, nicht schlecht, nicht gesund, nicht krank. Es kommt immer darauf an, wie sie eingesetzt werden und letztlich immer auch auf die Dosis. Ein alter medizinischer Grundsatz lautet: „Allein die Dosis macht das Gift.“


Wie viel hilft eine Kindheit und Jugend in elterlicher Geborgenheit?

Es ist gerade hier von Wien ausgehend, von der psychoanalytischen Schule bekannt, dass insbesondere die ersten Lebensjahre und die dortigen Verhältnisse im engeren Milieu ganz entscheidend sind, für den weiteren Lebensweg und die Persönlichkeitsentwicklung.

 

Wenn es zum richtigen Maß an Zuwendung, an Zärtlichkeit, sprich Emotionalität und Zeit gekommen ist, also zu diesen drei berühmten Z, dann werden die Menschen sicherer, sie können dann die stärkeren Persönlichkeiten werden und später im Leben mit den Dingen besser zurechtkommen. Man darf es allerdings auch nicht überbewerten.


Kann im Leben auch der Glaube eine wesentliche Rolle spielen und helfen?

Menschen, die das Glück eines religiösen Bezugs haben, die also so etwas wie Glauben in sich verspüren, sind, wenn man so will, begnadet.

 

Jeder Mensch ist ein Stück weit gläubig. Man kann gar nicht ungläubig sein, weil es sich hier eben um diesen Zwischenbereich zwischen Wissen, Ahnen und Abwägen von Möglichkeiten, auch von Hoffnungen letztlich handelt.


Macht es da auch die Dosis aus?

Glaube hat für mich damit zu tun, zu vermuten, zu erahnen oder auch zu ersehnen, wie die andere Dimension des Lebens ausschaut. Alte Vorstellungen, bei denen einem konkret vorgeschrieben wird, was man zu glauben hat, das sind alles Erklärungsmodelle, die aus dem jeweiligen Wissensstand der jeweiligen Zeit heraus entwickelt worden sind.

 

Die haben keine Chance mehr, sondern man muss wahrscheinlich mehr davon ausgehen, dass jedes Lebewesen sich nur in bestimmten Dimensionen bewegen und denken kann, aber es nicht möglich ist, auf andere Dimensionen ohne weiteres überzuspringen, auch nicht uns Menschen. Und dort beginnt dann der Glaube.


Sie haben sich intensiv mit dem Bösen beschäftigt. Stammt das Böse wirklich von der Verführung der Eva mit dem Apfel durch die Schlange ab?

 

Ich habe mich als Kind auch immer gefragt, wie kann man denn von so einer Vorstellung der Erbsünde ausgehen? Wie kann ein unschuldiges Kind, das gerade auf die Welt gekommen ist, schon mit der Sünde behaftet sein?

 

Aber meines Erachtens war das eine Versinnbildlichung der Erkenntnis, dass in jedem Menschen gute und schlechte Anteile stecken und dass bei jedem Menschen irgendwann im Leben auch das Böse zum Durchbruch kommt, ohne dass es dafür äußere Anlässe, negative Entwicklungen oder Krankheiten gibt. Sondern dass Menschen einfach ihre Aggressivität in bestimmten Situationen auslösen oder sich letztlich sehr destruktiv gegen die Mitmenschen verhalten.

 

Dieses Innewohnende des Bösen, dass es sozusagen nicht nur einen Moralinstinkt gibt, sondern auch einen Drang zu dem, was wir als das Böse bezeichnen, hat man mit dieser Vorstellung der Erbsünde dem Menschen gleichsam in die Wiege gelegt.


Zum Bösen in unserer Zeit gehören Terroranschläge und Morde. Was brauchen Sie als Experte, um sich ein Bild von den Abgründen in den Menschen zu machen?


Das Böse kann niemand so recht erklären. Es haben die diversen wissenschaftlichen Disziplinen jeweils ihre eigenen Vorstellungen. Sicher ist eines: Das Böse wandelt immer sein Gesicht. Es hört nie auf und tritt in unterschiedlichen Formen zutage.


Narzissmus ist ein gesellschaftliches Phänomen. Wie erklären Sie sich das?

 

Ein Narzisst ist jemand, der sich viel zu wenig anerkannt fühlt, im Prinzip ein Mensch mit sehr vielen Minderwertigkeitsgefühlen. Aber gerade darum braucht er von außen diese Droge der Anerkennung, der Zuwendung, der Bewunderung, was bei ihm aber kein echtes Gefühl des Geliebtwerdens auslöst, sondern eher einen rauschartigen Zustand, wie eine Droge.

 

Und natürlich erfüllt der Narzissmus auch alle Gesetze der Sucht. Es ist die Krankheit des Nicht-aufhören-Könnens und des Niemals-genug-Bekommens. Die Droge heißt für einen Narzissten nicht Kokain, Heroin, oder Alkohol, sondern Bewunderung, Anerkennung, falsches Lob.


Sie beschäftigen sich in Ihrem neuen Buch mit dem Begriff Wertschätzung. Gibt es diese zu wenig?


Das habe ich mich selbst auch immer öfter gefragt. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen immer kränkbarer werden, und dass sehr viel Leid geschieht. Da habe ich mir gedacht, ich muss eigentlich auch ein Gegenmodell liefern. Es genügt nicht, nur die Probleme und Skandale aufzuzeigen, sondern man muss auch so etwas wie eine Therapie liefern.

 

Gleichzeitig ist mir aufgefallen, dass in unserer Gesellschaft, in der Worte wie „cool“ und „abgebrüht“ derartig dominieren, die Wertschätzung immer zu kurz kommt. Es ist eine unglaubliche Wertschätzungskrise, die mit dem zunehmendem Zentrieren auf sich selbst zu tun hat, also dem Narzissmus.


Worauf hoffen Sie?
Das ist für mich das wahre Wunder an der Wertschätzung, jeder will gelobt und anerkannt sein, und reagiert tief gekränkt, wenn er das nicht erhält, ist aber gleichzeitig nicht fähig, ein Lob auszusprechen und immer weniger imstande, den Mitmenschen und deren Leistung und Persönlichkeit mit einer gewissen Wertschätzung zu begegnen.

 

Es gibt keinen besseren Motivationsfaktor im Beruf und im privaten Leben als Wertschätzung.

erstellt von: Der SONNTAG / Stefan Hauser
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Weitere Informationen:

Univ.-Prof. Prim. Dr. med. Reinhard Haller

 

Geboren
am 25. September 1951, stammt aus dem vorarlbergerischen Mellau

 

Studium
an der Universität Innsbruck Medizin und Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie

 

Weiteres:
Chefarzt des Krankenhauses
Maria Ebene, eines Behandlungszentrums für Suchtkranke, Mitglied der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft

 

Einige Bücher:


„Die Seele des Verbrechers“

Residenz Verlag (2006),

ISBN-13: 978-3701730377

 


„Das ganz normale Böse“

Ecowin Verlag (2009),

ISBN-13: 978-3902404800

 


„Das Wunder der Wertschätzung"

GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH (2019)

ISBN-13: 978-3833867446


Radio Tipp

Warum Wertschätzung im Leben so wichtig ist, erläutert Reinhard Haller im Sommergespräch am

Montag, 5. August um 17.30 Uhr,

DaCapo am Sonntag, 11. August, 17.30 Uhr.

Podcast



Reinhard Haller

privat


Leben ist…
eine wunderbare Ausdrucksform. Etwas, was wir nie voll erfassen werden. Was aber letztlich das ist, an dem der Mensch wahrscheinlich am meisten hängt.

Sonntag ist…
ursprünglich gedacht als Burnoutprophylaktikum, beziehungsweise als Erholungsphase. Aber auch als ein Tag, an dem man sich ganz dem Höheren, dem Göttlichen, auch dem Glauben, dem Religiösen widmen kann. Heute ist die letzte Funktion leider in eine gewisse Krise gekommen.

 

Glaube ist…
für mich der höhere Sinn des Lebens. Es ist ein Begriff, von dem jeder weiß, was damit gemeint ist, aber es ist sehr schwierig, für ihn eine Definition zu finden. Psychologisch würde ich sagen, ist es etwas Gegensätzliches zum Wissen.

 

Wir sind ja Gläubige – nicht wissende Menschen. Aber das ist etwas Geheimnisvolles, etwas Verlockendes, etwas das nicht nur die Kognition, sondern auch die Emotionalität und ganz tiefe menschliche Bedürfnisse anspricht.


weitere Informationen zu

 

Der SONNTAG
die Zeitung der Erzdiözese Wien
Stephansplatz 4/VI/DG
1010 Wien
T +43 (1) 512 60 63
F +43 (1) 512 60 63-3970

E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at

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Interview mit Rotraud Perner, Psychologin und evang. Theologin + Analyse von Matthias Beck, Mediziner und Theologe.

Warum Habgier uns alle betrifft

Interview mit Beate Weingardt, Psychotherapeutin und Buchautorin + Analyse von Matthias Beck, Mediziner und Theologe.

Papst Franziskus: Der Teufel – keine „altertümliche Sache“

Papst Franziskus spricht – gut biblisch und gut jesuitisch inspiriert – immer wieder
vom Wirken des Teufels. Ein kleiner Streifzug durch die vergangenen Monate.

„Das Böse ist mancherorts zum Tabu-Thema geworden“

Interview mit Elisabeth Forstreiter über die begrenzte Macht des Teufels und wie man dem Bösen widerstehen kann.

Der Zorn gehört zu uns Menschen dazu

Interview mit Psychotherapeutin und Coach Brigitte Ettl + Analyse von Matthias Beck, Mediziner und Theologe.

Um Neid ist niemand zu beneiden

Interview mit Sonja Rieder, Psychotherapeutin und Karriereberaterin + Analyse von Matthias Beck, Mediziner und Theologe.

Kein Feuer in der Hölle?

Pfarrvikar Pius Platz beschreibt in seinem Buch ein österlich geprägtes Christentum.

Hochmut kommt vor dem Fall

Interview mit Marco Blumenreich, Psychotherapeut; + Analyse von Matthias Beck, Mediziner und Theologe.

An die Wurzel des Übels herankommen

Die „sieben Todsünden“ sind Wurzelsünden, die zu immer weiteren Sünden führen. Warum das so ist, erklärt der Wiener Moraltheologe Matthias Beck.

Sakramente: Zu komplex für eine einheitliche Lösung

Die „neue Marschrichtung“ für die Praxis der Sakramente von Erstkommunion und Firmung.

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