"Therapie ist immer ein gemeinsamer Prozess. Es hängt nicht nur von mir als Therapeutin ab", sagt Nora Ramirez-Castillo.
"Therapie ist immer ein gemeinsamer Prozess. Es hängt nicht nur von mir als Therapeutin ab", sagt Nora Ramirez-Castillo.
Nora Ramirez-Castillo arbeitet in Wien als Psychologin für "Hemayat", das Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende. "Wir können die Flüchtlinge nur dabei begleiten, zu lernen, mit den Folgen ihres Traumas zu leben. Im besten Fall bestimmt es nicht ständig die Gegenwart."
Wie kommen die Menschen zu Ihnen, wie gelingt der Erstkontakt?
Nora Ramirez-Castillo: Teilweise werden sie uns durch Betreuer in einer Flüchtlingsunterkunft oder durch Ärzte und psychiatrische Spitäler zugewiesen.Kinder und Jugendliche werden vom Jugendamt, von Schulen und Kindergärten zu uns geschickt. Es kommen noch viele Leute durch die eigene Flüchtlingscommunity: Es ist schon eine Person bei Hemayat in Behandlung, und dann merkt sie, im Umfeld gibt es auch einen Menschen, der unsere Hilfe benötigen würde.
Was sind die ersten Schritte?
Nora Ramirez-Castillo: Zunächst wird ein Abklärungsgespräch durchgeführt. Bei diesem schauen wir, braucht die Person psychiatrische Behandlung, handelt es sich um einen Fall von Traumatisierung durch Krieg und Folter, was unsere Kerngruppe ist. Leider ist es so, dass es sehr lange Wartezeiten speziell für die Psychotherapie gibt.
Was bedeutet es für Sie und für die Menschen, wenn man so lange warten muss?
Nora Ramirez-Castillo: Es ist für beide Seiten belastend. Die Menschen kommen in einer Krise und bräuchten sofort Unterstützung. Sie sind oft deprimiert, wenn sie hören, dass es zwar Hilfe geben würde, aber dass sie so lange warten müssen. Wir versuchen es ein bisschen abzufedern, eben durch den schnelleren Zugang zu einem Psychiater außerhalb, auch da gibt es Wartezeiten. Oder wir bieten Sport- und Kunsttherapiegruppen an, bis die Einzelpsychotherapie losgehen kann. Es ist für mich schwer, in einem Erstgespräch sagen müssen: "Es dauert ein Jahr, bis Sie einen Platz bekommen." Ich sehe das Leid, bin unmittelbar damit konfrontiert und würde natürlich gern Soforthilfe anbieten können.
Dann bleibt das Trauma. Was bedeutet das?
Nora Ramirez-Castillo: Wenn Symptome nicht behandelt werden, wird es nicht besser, sondern immer schlimmer. Die Menschen haben Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Ängste, sind schreckhaft, d.h. oft führt dies zu einem Rückzug. Man hat bei der Integration Probleme, weil es schwieriger ist, in einen Deutschkurs zu gehen und sich Dinge zu merken. Oder es kommt auf der sozialen Ebene zu einem Problem, wenn diese Dinge unbehandelt bleiben. Wenn jemand sehr schwer traumatisiert ist, ist der Besuch der Gruppenangebote gar nicht möglich, weil es wirklich zuerst einmal Stabilisierung braucht und eben dieses vertrauliche Setting der Psychotherapie, um gewisse Dinge besprechen und bearbeiten zu können.
Welche Ursachen gibt es für ein Trauma?
Nora Ramirez-Castillo: Unsere Patienten haben meistens nicht nur eine traumatisierende Situation erlebt, sondern eine Vielzahl. Viele Menschen aus Syrien haben Bombenangriffe miterlebt, gesehen, wie ihre Häuser zerstört worden sind, wie vielleicht Familienmitglieder ums Leben gekommen sind. Sie haben sehr viel verloren. Was auf der Flucht alles passieren kann, sehen wir ständig in den Bildern in den Medien: von diesen gefährlichen Überfahrten auf dem Meer angefangen bis zu jetzt zu den teilweise schrecklichen Bedingungen in den Camps und an den Grenzen. Was dazu kommt ist: Wir betreuen auch Menschen, die jahrelang inhaftiert worden sind und in der Haft wiederholt schwerst misshandelt worden sind. Oder Frauen, die im Krieg vergewaltigt worden sind, Menschen, die ansehen mussten, wie andere Familienmitglieder misshandelt, mitgenommen werden und nie wieder zurückkommen.
Sie haben Frauen, die vergewaltigt worden sind, angesprochen. Wie schafft man es, dass eine Frau noch darüber reden kann?
Nora Ramirez-Castillo: Zunächst schaffen wir Vertrauen. Ich vermittle, dass meine Verschwiegenheit in diesem Setting gegeben ist, dass wirklich nichts weiter erzählt wird, dass sich diese Verschwiegenheit auf die anwesende Dolmetscherin erstreckt. In solchen Fällen sind in der Regel Therapeut und Dolmetscher beide Frauen, weil das auch eine Geschlechterfrage ist. Man vermittelt, dass man die Grenzen respektiert, d.h. dass man die Frauen nicht drängt, irgendwas zu erzählen, aber auch, dass sie nicht verurteilt werden. Man vermittelt Empathie und ein Gefühl von Sicherheit und dann können sich die Patientinnen langsam öffnen.
Ändert das Gespräch mit dem Umweg über die Dolmetscherin etwas?
Nora Ramirez-Castillo: Ja, eine dritte Person befindet im Raum. Aber in der Psychotherapie begleitet die Dolmetscherin fix die Therapie, um eben dieses Vertrauen gewährleisten zu können, das sich auch gegenüber der Dolmetscherin aufbauen muss. Die Dolmetscherin bemüht sich, ganz genau zu übersetzen. Es erfolgt die Übersetzung in der ersten Person, auch Brüche in der Kommunikation werden übersetzt. Es wird kein Sinn interpretiert, wo keiner ist. Durch dieses wirklich sehr genaue Dolmetschen kann die sprachliche Verständigung zu Stande kommen. Was aber sowieso die ganze Zeit da ist, ist die Körpersprache. Als Therapeutin kann ich sehen, wie es meiner Patientin geht.
Wie ist die Situation der Flüchtlinge, die Österreich erreichen?
Nora Ramirez-Castillo: Sie kommen mit diesem Rucksack von schlimmen Erfahrungen, die oft Monate, manchmal Jahre hinweg angedauert haben. Wenn sie nach Österreich kommen, verspüren sie eine erste Sicherheit. Häufig werden Symptome erst sichtbar, wenn eine gewisse Entspannung eintritt, bis dorthin stand das Überleben im Vordergrund. Die Asylverfahren sind oft eine sehr große Belastung, weil es sehr lange dauert und unklar ist, was passieren wird. Erst wenn dies abgeschlossen ist, wenn einmal die Nachricht da ist, ich darf in Österreich bleiben, können die Leute anfangen, hier Fuß zu fassen.
Wie sprechen Sie mit Kindern über deren traumatische Erlebnisse?
Nora Ramirez-Castillo: Das ist immer eine Alters- und Entwicklungsfrage. Bei den ganz kleinen Kindern – wir haben schon Kinder ab drei Jahren in Therapie – kann man nicht mit wie mit einem erwachsenen Menschen darüber reden. Bei ihnen äußert sich das oft im Spiel, dass dramatische Situationen nachgestellt werden.
Wir hatten zwei Kinder in Betreuung, deren Vater abgeschoben werden sollte. Er hat sich selbst mit einer Rasierklinge am Mund und an den Händen verletzt, die Kinder haben das gesehen. In der Therapie haben sie immer wieder gespielt, sich den Mund und die Hände selbst rot angemalt. Sie zeigten die Verletzung an diesen Stellen. Die Therapeutin musste sie immer wieder verbinden. Das war schon die Bearbeitung des Traumas, weil in der Situation jemand da war, der geholfen hat und der es wieder gut gemacht hat. Das ist ständig gespielt worden, bis bei den Kindern die Sicherheit da war, es kommt immer die Hilfe.
Wenn eine Therapie beginnt, gibt es einen Zeitrahmen dafür?
Nora Ramirez-Castillo: So unterschiedlich wie die Geschichten der Menschen sind, so unterschiedlich sind die Traumatisierungen der Menschen. Wir haben Personen, die relativ viele Ressourcen haben, nicht ganz schwer wiegende Traumatisierungen erlebt haben, wo relativ rasch geholfen werden kann und eine sehr schnelle Stabilisierung eintritt. Es gibt auch jene, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und diese überstehen, ohne Symptome zu entwickeln. Es sind nicht alle Menschen gleich. Aber wenn ich Personen hernehme, die jahrelang im Gefängnis gefoltert worden sind, bis diese Vertrauen aufbauen, kann sehr viel Zeit vergehen.
Gibt es auch Grenzen dessen, was Sie leisten können?
Nora Ramirez-Castillo: Therapie ist immer ein gemeinsamer Prozess. Es hängt nicht nur von mir als Therapeutin ab, sondern auch vom Patienten oder der Patientin. Was wollen wir gemeinsam erreichen und was ist irgendwie schaffbar. Diesen Wunsch zu vergessen, alles ungeschehen zu machen, können wir nicht erfüllen. Aber wir können die Leute dabei begleiten zu lernen, mit den Folgen des Traumas zu leben – und da ist natürlich viel möglich. Im besten Fall rückt es in die Vergangenheit und wird zu einem Teil der Biografie und bestimmt nicht ständig die Gegenwart.
Ein Informations- und Vernetzungstag für alle, denen die Integration von Flüchtlingen ein Anliegen ist.
Im Blickpunkt steht die nächste Phase der Integration: "Angekommen, Schutz gefunden" – wie geht es weiter?
Fragen zu Arbeitsmarkt, Wohnungssuche, Asylverfahren über Deutschkurse bis hin zur Traumatisierung stehen im Fokus der Veranstaltung. Die Teilnahme ist kostenlos.
Wann: Samstag, 23. April 2016, von 9.30 bis 17 Uhr
Wo: im Kardinal König Haus, 1130 Wien, Kardinal-König-Platz 3
Jetzt anmelden:
www.erzdioezese-wien.at/integrationstag
Rückfragen unter Tel. 01/512 3503-3964 (Barbara Kornherr)
Das Wort "Hemayat" stammt aus dem arabischen Sprachraum und bedeutet "Betreuung" und "Schutz". Der gemeinnützige Verein Hemayat wurde 1995 gegründet und hat sich in Wien als Zentrum für dolmetschgestützte medizinische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung von folter- und kriegstraumatisierten Flüchtlingen etabliert. Die Betreuung umfasst Diagnostik, Beratung, Krisenintervention, medizinische Versorgung und interkulturelle Psychotherapie. Im Jahr 2015 wurden 753 Menschen - darunter 122 Minderjährige - aus 48 Ländern bei HEMAYAT betreut.