Die vergessenen Kinder von Sierra Leone

Ausgemergelte Gestalten, gezeichnet von Hunger und Durst, verwahrlost und ohne Hoffnung. „Es ist in ihre Gesichter geschrieben: keine Aussicht, keine Perspektive.“ Bruder Lothar Wagner besucht seit einem Jahr das Gefängnis Pademba in Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone.

Bestialischer Gestank hängt in der Luft. In vier Baracken mit je 64 Zellen werden 1.712 Insassen gepfercht. Acht bis zehn Gefangene müssen sich eine Zelle mit acht bis zwölf Quadratmetern teilen. Für Möbel ist kein Platz, nicht für Betten und auch nicht für Matratzen. Geschlafen wird auf dem nackten Boden. Es gibt keinen Wasseranschluss und keine Toiletten, nur einen Kübel, der morgens in der Klärgrube geleert wird.

Für Wasser muss bezahlt werden

Die mangelnde Hygiene verursacht viele Krankheiten. Zum Waschen fehlt das Wasser, zum Trinken auch. Dafür muss gezahlt werden. Ebenso für das Essen, einen schlecht zubereiteten Fraß. 1000 Leone - 25 Cent - kostet eine Mahlzeit. Wer keinen Besuch bekommt, hat kein Geld. Er kann sich das Essen verdienen.

Unter den mehr als 1.700 Gefangenen befinden sich etwa 350 Kinder und Jugendliche. Nachts dürfen sie nicht schlafen. Sie müssen die Mosquitos vertreiben, damit die Erwachsenen nicht gestochen werden. Tagsüber dämmern sie in einer Ecke dahin. Die Älteren sind oft schon jahrelang im Gefängnis. Die Kinder und Jugendlichen sind ihnen ausgeliefert. „Man kann es an den Körpern sehen, dass die Kinder sexuell misshandelt werden, nicht nur missbraucht, sondern ausgebeutet und misshandelt,“ berichtet Br. Lothar Wagner dem SONNTAG. Der Salesianer Don Boscos und sein Team bieten erste Hilfe und medizinische Betreuung an. Vor allem versuchen sie, die jungen Menschen frei zu bekommen.

Jagd auf Straßenkinder

Mehr als die Hälfte der Gefängnisinsassen wurde nicht ordentlich verurteilt. Weil es viel zu wenig Justizbeamte gibt, warten Untersuchungshäftlinge durchschnittlich drei bis fünf Jahre auf ihre Verhandlung. Vor allem unter den Kindern sind viele unschuldig. „Die Polizisten machen regelrecht Jagd auf Straßenkinder“, sagt Salesianerbruder Lothar Wagner, „sie nehmen ihnen das wenige, das sie haben weg, und wenn sie nichts haben, dann werden sie wegen Herumstreunens festgenommen und ins Gefängnis geworfen.“ Manche Kinder geraten tatsächlich mit dem Gesetz in Konflikt. Dass man sie aber einsperrt, weil sie ein Handy oder etwas zu essen gestohlen haben, sei völlig unverhältnismäßig, so Br. Lothar Wagner. Auch bei schweren Delikten, etwa dem Fall eines 17-Jährigen, der im Affekt jemanden umgebracht hat, setzen sich die Salesianer Don Boscos für Rehabilitationsmaßnahmen ein. „Junge Menschen sollen eine zweite Chance erhalten“, unterstreicht Br. Lothar Wagner.

Rückkehr in die Freiheit

Die Rückkehr in die Freiheit begleiten die Salesianer: Sie nehmen Kontakt mit den Familien auf und bereiten die Reintegration in die Verwandtschaft, in die Nachbarschaft, die Fußballmannschaft usw. vor. „Da haben wir bisher tolle Erfolge erzielt“, so Br. Lothar Wagner und erzählt von Ibrahim Mkabo: Als Zwölfjähriger wurde er von einem Polizisten gekidnapped - „so muss man es wirklich ausdrücken“, meint der Salesianer - und war fünf lange Jahre im Gefängnis Pademba. Der Orden schaltete das Gericht und die Regierung ein, um den Burschen freizubekommen. Im Beratungszentrum der Salesianer Don Boscos holte Ibrahim seinen Hauptschulabschluss nach und konnte  danach eine Ausbildung zum KFZ-Mechaniker machen. „Zum ersten Mal in seinem Leben ist Ibrahim erst genommen und verstanden worden“, so Br. Lothar Wagner, „er konnte neu beginnen. Das sind kleine Schritte, die uns bestärken, weiter zu machen“, sagt der Ordensmann.

Familien im Ungewissen

Viele Familien wissen nicht, dass ihre Kinder im Gefängnis sind. Wenn niemand Lösegeld bezahlt, und die Aktenberge sich meterhoch türmen, werden sie im Gefängnis einfach vergessen. Die Salesianer Don Boscos kritisieren das Nicht-Handeln der Regierung sowie die Korruption der Ermittlungsbehörden und Gerichte. „Die müssten verhindern, dass Kinder und Jugendliche ins Gefängnis kommen“, fordert Br. Lothar Wagner. Allerdings ist das Alter einer Person in Sierra Leone nicht feststellbar. Nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg (1991-2002) gibt es in dem Land keine Geburtsurkunden. Die Salesianer haben  gemeinsam mit der Regierung Kriterien zur Schätzung des Alters  erstellt. Diese Richtlinien gilt es noch durchzusetzen.

Todesrate in den Gefängnissen hoch

Die Todesrate im Gefängnis ist sehr hoch. „Das sind alles sinnlose Tode“, erklärt Br. Lothar Wagner, „die Verantwortlichen müssen dafür sorgen, dass Kranke rechtzeitig versorgt werden.“ Bis zu 100 Gefangene betreuen die Salesianer Don Boscos täglich im Gefängnis Pademba. Sie versorgen Wunden, pflegen die vielen Tuberkulose- und Malariakranken. Bieten Rechtsberatung und sozialtherapeutische Maßnahmen an. Bringen Essen, vor allem Obst für die Kinder und Jugendlichen. Im Mai haben sie einen Brunnen gebohrt, jetzt wollen sie Wasserleitungen, Toiletten und Duschen installieren. Damit keiner dürsten muss. Und die Hautkrankheiten heilen, die der Schmutz verursacht.

Vor allem sind die Salesianer da. An diesem grauenvollen Ort. Jeden Tag. Darauf können sich die Kinder und Jugendlichen verlassen. „Das Gefängnis ist für mich die Vorhölle“, sagt Br. Lothar Wagner, „es ist bedrückend, und gleichzeitig ist ein Schrei zu vernehmen, dass da etwas getan werden muss. Da liegen wir Salesianer genau auf der Linie von Papst Franziskus, wenn wir sagen: Da müssen wir hin, da müssen wir etwas tun.“

Monika Fischer