Zum ersten Mal seit 2.000 Jahren ist ein wirklich offenes Gespräch zwischen beiden Glaubensgemeinschaften möglich.
Zum ersten Mal seit 2.000 Jahren ist ein wirklich offenes Gespräch zwischen beiden Glaubensgemeinschaften möglich.
Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Jäggle, in "Furche"-Beitrag über neues Verhältnis zwischen Christen und Juden.
Als Beziehung zwischen Geschwistern hat Prof. Martin Jäggle das Verhältnis zwischen Christen und Juden beschrieben. In einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Furche" erläuterte der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, dass Geschwisterlichkeit mehr sei als bloße Freundschaft: "Geschwister zu haben und Geschwister zu sein, kann sich niemand aussuchen. Mit Geschwisterlichkeit wird eine vorgegebene, nicht änderbare Beziehung benannt und anerkannt, während Freundschaft jederzeit wieder aufgekündigt werden könnte."
Geschwister könnten zudem aber gute Freunde sein oder auch werden. Von Johannes XXIII. bis Franziskus hätten die Päpste dieses Geschwistersein mit dem jüdischen Volk betont und die jüngsten Dokumente des orthodoxen Judentums würden diese Sicht bestätigen, so Jäggle.
Der Präsident des heimischen Koordinierungsausschusses zitierte in seinem Beitrag Pfarrer Friedhelm Pieper, den evangelischen Präsidenten des Deutschen Koordinierungsrates: "Zum ersten Mal seit 2.000 Jahren ist ein wirklich offenes Gespräch zwischen beiden Glaubensgemeinschaften möglich." In diesem Gespräch auf Augenhöhe könne man "lernen, den Reichtum unserer Schriften und unseres jeweiligen Glaubens zu teilen, unsere Unterschiede neu zu verstehen".
Zu den Herausforderungen gehöre es, im kirchlichen Alltag die Geschwisterlichkeit zum leitenden Paradigma zu machen, anstatt das Christentum dem Judentum entgegenzustellen und dieses zur Erhöhung des Christentums zu missbrauchen, so Jäggle. Er erinnerte an den Linzer Bischof Manfred Scheuer. Dieser habe in seinen Gedanken zum Tag des Judentums am 17. Jänner 2021 betont: "Jesus ist für Christen ohne sein Judentum nicht zu haben." Man wisse endgültig, dass "Jesus von Nazaret nicht nur seiner biologischen Herkunft nach ins jüdische Volk gehört, sondern auch seiner geistigen und religiösen Form nach Jude war und Jude sein wollte." Es führe kein Weg daran vorbei: "Wer Jesus kennen will, muss das Volk kennen, in das er gehört."
Je tiefer Christinnen und Christen den Glauben Jesu verstehen, umso mehr werde eine Erneuerung christlichen Glaubens und der Kirche möglich. Wenn in den Kirchen die Haltung der Dankbarkeit wachsen könnte für alles, was sie dem jüdischen Volk verdanken, wäre jeder Form der Ablehnung und Abwertung des Judentums der Boden entzogen, so Jäggle weiter. Dankbarkeit könnte auch dazu führen, zu jüdischen Festen im christlichen Gottesdienst für jüdische Gemeinden zu beten und sich mit ihnen für die Sicherung ihres Lebens einzusetzen.
Der Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit begeht heuer sein 65-Jahr-Jubiläum. Am 26. Oktober gibt es dazu in Wien einige besondere Veranstaltungen. Von Kardinal Franz König im Oktober 1956 auf Anregung von Prof. Kurt Schubert gegründet, hat der Koordinierungsausschuss nach der Shoa wesentlich dazu beigetragen, dass ein neues Verhältnis zwischen Judentum und Christentum in Österreich möglich wurde.
Den Auftakt am Nationalfeiertag macht um 10 Uhr der Workshop "Geschwisterlichkeit statt Judenfeindschaft". Dieser setzt sich mit kirchlichen Traditionen und Kunstwerken auseinander, in denen das Judentum herabgewürdigt wird. (Evangelische Pauluskirche, 1030 Wien, Sebastianplatz 4)
Um 14.30 Uhr startet bei der Pauluskirche ein "Gedenk-Achtelmarathon 2021". Dieser führt in die Dorotheergasse und weiter zum umstrittenen Lueger-Denkmal. Von dort geht es über die Urania zur ehemaligen Synagoge im 3. Bezirk. Der Marathon findet seinen Abschluss bei der Gedenktafel an die Wiener Gesera vom 12. Mai 1421. Die Gedenktafel befindet sich in der Kegelgasse.
Die Wiener Gesera 1420/21 gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Geschichte Österreichs. Am 23. Mai 1420 gab Herzog Albrecht V. den Befehl, alle Juden im Herzogtum Österreich gefangenzunehmen. Das war der Startschuss für die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Wien und Niederösterreich zwischen Mai 1420 und dem 12. März 1421. Es kam zur völligen Auslöschung aller jüdischen Gemeinden und allen jüdischen Lebens im damaligen Österreich, durch Zwangstaufen, Vertreibungen, Plünderungen und Mord. Die "Wiener Gesera" fand am 12. März 1421 mit der Verbrennung der etwa 210 überlebenden Wiener Juden auf der Erdberger Gänseweide - damals noch vor den Toren und Mauern Wiens - ihren traurigen Höhepunkt.
Der öffentliche Feierabend "65 Jahre Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit" beginnt am Nationalfeiertag um 19.30 Uhr im Othmarsaal der katholischen Pfarre St. Othmar unter den Weißgerbern (1030 Wien, Kolonitzplatz 1) Auf dem Programm des Feierabends stehen Grußbotschaften, Ehrungen, Erzählungen von Zeitzeugen und die Präsentation zukunftsweisender Initiativen. Alle Veranstaltungen des Koordinierungsausschusses am Nationalfeiertag sind Teil der Initiative "Mechaye Hametim" zum Gedenken der Novemberpogrome von 1938.
Die Vorstandsmitglieder des Koordinierungsausschusses sind seit 65 Jahren zu je einem Drittel jüdisch, evangelisch und katholisch. Die Arbeitsbereiche sind Dialog, Bildung, Öffentliche Kommunikation und Wissenschaft. Präsident des Koordinierungsausschusses ist der katholische Theologe Prof. Martin Jäggle, jüdischer Vizepräsident ist Willy Weisz, evangelische Vizepräsidentin Pfarrerin Margit Leuthold. Mit der Aufgabe des Geschäftsführers wurde 2020 der jüdische Religionswissenschaftler Yuval Katz betraut.