Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 1. Juni 2025
Ist das wirklich wünschenswert? Im Wissen um seinen bevorstehenden Tod richtet Jesus diese Bitte an Gott. Nicht viel anders wird das Gebet einer sterbenden Mutter aussehen: Alle (ihre Kinder, ihre Familie) sollen eins sein. In diesem Gebet drückt sich eine Sorge aus. Solange Jesus da ist, bleibt er das lebendige Band der Einheit, wie die Mutter in der Familie. Wie wird es sein, wenn Jesus nicht mehr da ist? Von Anfang an gab es Spannungen und Spaltungen unter den Christen. Sie waren genau das Ärgernis, das Jesus befürchtet hat. Darum hat er so inständig dafür gebetet, dass sie eins sind untereinander wie er mit dem Vater eins ist, „damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“
Wie soll die Welt an Jesus glauben, wenn seine Jünger so uneins sind? Jedes Jahr beten Christen weltweit um die Einheit aller Jünger Jesu. Gewiss gibt es Fortschritte. Wo Jesus in der Mitte steht, da kommen Christen einander näher. Dazu trägt auch immer wieder bei, dass Christen in vielen Teilen der Welt verfolgt werden. Die Anfeindungen machen keinen Unterschied zwischen Bekenntnissen, alle gelten als Christen, deshalb werden sie verfolgt.
Ist es überhaupt wünschenswert, dass wir alle eins sein sollen? Um welche Einheit hat Jesus gebetet? Um eine Einheitswelt? Die Gleichheit aller? Geht es um Uniformität oder um echte Gemeinschaft? Wieviel Freiheit lässt eine immer globalisiertere Welt den Einzelnen, den verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen?
Alle Diktaturen lehnen Vielfalt ab. Sie wollen eine Einheit ohne Unterschiede. Das erste, was Diktaturen beseitigen, sind die individuellen Freiheiten. Jeder Mensch, der auf die Welt kommt, ist einmalig. Wir haben alle die gleiche Würde. Zu ihr gehört auch die persönliche Freiheit. Warum schränken Diktatoren als erstes die Pressefreiheit ein? Papst Leo hat in seiner ersten Begegnung mit den Journalisten ihnen für ihren oft gefährlichen Einsatz für objektive, sachliche Information gedankt. Ausdrücklich hat er von den Journalisten gesprochen, die ihr Leben gegeben haben, um ihren Dienst gut zu erfüllen.
Um welche Einheit hat Jesus gebetet, wenn es nicht die zwangsverordnete Einheit ist? Es gibt noch eine andere Art von Einheit, die, so glaube ich, Jesus nicht gemeint haben kann. Man sagt gerne: „Einheit macht stark.“ Das stimmt! Unsere vielen Uneinigkeiten schwächen unser Zusammenleben. Sie verhindern so viel Gutes. Stärke durch Einheit kann aber auch missbraucht werden. Die Drogenkartelle in Kolumbien und Mexiko sind fast unbesiegbare Einheiten. Ganze Länder leiden unter ihrer Macht.
In den Wochen seit Ostern hat die Welt eine andere Erfahrung von Einheit erleben können. Viele Menschen, über alle Grenzen der Religion und der Politik, der Sprachen und Länder hinweg haben gespürt, dass der „Mann in weiß“, der Papst, eine Gestalt von Einheit verkörpert, die etwas Einzigartiges bedeutet. Der Tod von Papst Franziskus am Ostermontag und die Wahl von Papst Leo am 18. Mai haben die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen. Hoffnung war greifbar, spürbar. Alle die Spaltungen und Spannungen, Kriege und Konflikte konnten nicht verhindern, dass eine Vision von Einheit sichtbar wurde, die für alle Menschen guten Willens Platz hat. Papst Franziskus hat 2019 mit dem führenden Lehrer des sunnitisch Islam, Sheik Ahmed el-Tayeb, eine Erklärung unterzeichnet, die ein friedliches Zusammenleben in der Welt von heute erhofft. Mich beeindruckt daran, dass beide – Muslim und Christ – überzeugt sind: Es ist wirklich möglich, weil wir wirklich eine Menschheitsfamilie sind. Papst Leo hat in seinem Wahlspruch den tiefsten Grund unserer Einheit genannt: „In illo uno unum!“ In diesem Einen, in Christus, sind wir alle eins!
Aus dem heiligen Evangelium nach Johannes.
In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und betete: Heiliger Vater, ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie ebenso geliebt hast, wie du mich geliebt hast. Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich schon geliebt hast vor Grundlegung der Welt. Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt und sie haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und ich in ihnen bin.