"Es genügt nicht, nur Armut zu überwinden, sondern dauerhaftes Wohlempfinden der Menschen ist gefragt", sagt Georges Enderle.
"Es genügt nicht, nur Armut zu überwinden, sondern dauerhaftes Wohlempfinden der Menschen ist gefragt", sagt Georges Enderle.
Für den in den USA lehrenden Theologen und Ökonomen Georges Enderle besteht der Reichtum eines Landes nicht nur in Form von Geld. Im Hinblick auf die Finanzkrise der vergangenen Jahre hält er Wirtschaftsethik für eine äußerst dringliche Sache.
Welche Lehren konnten aus der Finanz- und Wirtschaftskrise gezogen werden?
Georges Enderle: Mir scheint besonders wichtig, dass wir die Krise nicht einfach nur als ein Ereignis von Individuen verstehen. Es waren Organisationen, Investitionsfirmen, die Wallstreet, die Regulatoren involviert. Es braucht nicht nur neue, bessere Gesetze, sondern auch ein Umdenken in der Finanzwirtschaft – und das ist noch eine schwierige Sache. Ich habe alte Freunde in New York, die mit Finanzleuten in der Wallstreet Diskussionsgruppen aufgebaut haben. Ich hoffe, dass das erfolgreich sein wird, aber ich bin nicht zu optimistisch.
Braucht es überhaupt Wirtschaftsethik?
Georges Enderle: Ich habe gelernt, dass nicht nur das Wirtschaftssystem Ethik benötigt, sondern eben auch Organisationen und Unternehmungen, die einen immer größeren Einfluss und Macht bekommen haben. Nicht nur die Frage der ethischen Unternehmensführung wurde sehr bedeutend, auch die des individuellen Engagements der Führungsleute. Es sind noch sehr viele Anstrengungen sowohl in der Praxis als auch in der Lehre nötig. Es ist interessant, dass in den USA praktisch in allen Business Schools Wirtschaftsethik in der einen oder anderen Form gelehrt wird. Meines Wissens hat das in Europa erst allmählich begonnen.
Genügt die Goldene Regel – behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst – als ethische Orientierung?
Georges Enderle: Ich finde es eine hochinteressante Sache, dass die Menschheit in verschiedenen Kulturen die Goldene Regel (vgl. Mt 7,12 oder Lk 6,31) entdeckt hat. Sie ist heute vor allem für zwischenmenschliche Beziehungen relevant. Schwieriger anzuwenden ist sie, wenn es darum geht, wie sich Organisationen oder ganze Nationen in der Weltgemeinschaft verhalten sollen. Deshalb sind die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 definiert wurden, außerordentlich wichtig.
Welche große Herausforderungen sehen Sie für die Wirtschaftsethik in den nächsten Jahren?
Georges Enderle: Die erste ist, wie wir Globalisierung besser verstehen und damit in einer globalisierten Welt uns auch ethisch zurechtfinden. Die zweite Frage ist die so genannte Finanzialisierung der Wirtschaft, dass die Finanzwirtschaft wieder besser in die Realwirtschaft eingebunden wird und nach ethischen Prinzipien besser gestaltet werden kann. Das dritte ist wahrscheinlich das größte Problem, die Frage der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit, die urgiert wird, aber eigentlich viel zu wenig passiert.
In Ihren Schriften taucht immer wieder der Begriff "wealth creation" auf, "Schaffung von Reichtum" – vielleicht ein provokativer Ausdruck?
Georges Enderle: Dessen bin ich mir im Klaren. Die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften ist meines Erachtens wirklich zu verstehen, was Reichtum schaffen in einem breiten Sinn heißt. Der Reichtum eines Landes besteht nicht nur in Form von Geld, sondern aus den Menschen, die gesund leben, gut ausbildet sind und die Wirtschaft gestalten können. Der Grund, warum ich mich heute mit Wirtschafts- und Unternehmensethik beschäftige, war eigentlich mein Interesse an der Armut, nicht am Reichtum. Bei einem Besuch in Indien habe ich realisiert, dass es nicht genügt, einfach nur Armut zu überwinden, sondern es gefragt ist, wie kann dies auf positive und dauerhafte Weise geschehen.
Sie meinen, "wealth creation" kann zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen?
Georges Enderle: Der Reichtum von Österreich darf nicht nur als eine Akkumulation von privatem Reichtum verstanden werden – einzelne Unternehmen sind in der Wirtschaft erfolgreich –, er ist eine Kombination von privaten und öffentlichen Reichtum. Öffentlicher Reichtum bedeutet öffentliche Güter zu haben wie die Rechtsordnung, Sozialordnung, das Vertrauen in geschäftliche Beziehungen, die Respektierung der Menschenrechte.
Sehen Sie ein katholisches Defizit bezüglich Ihres Verständnis von Schaffung von Reichtum?
Georges Enderle: Ich habe feststellen müssen, dass viele Freunde von mir, die vor allem in der Theologie zu sozialen Fragen arbeiten, eigentlich wenig Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge zeigen. Wenn man nur predigt oder Prinzipien vertritt, dann ist das zu wenig. Wir brauchen zwar klare ethische Prinzipien, die wichtigsten sind für mich die Menschenrechte. Jedoch auch eine gründliche Arbeit, wie das ökonomisch umgesetzt werden kann. Es ist nicht so sehr die Frage, dass die katholische Soziallehre „ethisch schief“ liegt, sondern wie sie mit mehr ökonomischer Kompetenz gefüllt werden kann.
Was dachten Sie, als Sie in „Evangelii Gaudium“ von Papst Franziskus gelesen haben: "Diese Wirtschaft tötet"?
Georges Enderle: Das stimmt natürlich zum Teil, aber es ist schwierig, sich ein Gesamtbild über die Ökonomie, die Globalisierung oder die krassen Ungleichheiten in der Welt zu machen. Es gibt diese gefährlichen, schlechten Seiten der Wirtschaft – die Wirtschaftskrise hat uns das wieder ganz deutlich vor Augen geführt. Was sollen wir tun? Wir müssen dort ansetzen, wo unsere Fähigkeiten liegen und besonders dringend nötig sind. Papst Franziskus nennt die kritischen Sachen beim Namen und predigt gleichzeitig nicht eine Defätismus, sondern sagt, dass dies ein weiterer Grund sei, sich wirklich zu engagieren.
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Georges Enderle, geboren 1943 in St. Gallen, ist John T. Ryan Jr. Professor für International Business Ethics am Mendoza College of Business, University of Notre Dame (Indiana, USA).
Bevor Enderle in die USA ging, war er mehr als zehn Jahre in der Forschung und Lehre im Bereich Wirtschaftsethik in Europa tätig und war Mitbegründer von European Business Ethics Network (EBEN). Er leitete auch eine Reihe von Seminaren über Wirtschaftsethik bei Firmen wie Ciba-Geigy und BMW.
Seit 1994 ist er an zahlreichen Forschungs- und Lehraktivitäten in China, besonders an der China Europe International Business School (CEIBS) in Shanghai (1996-2003) und an der Shanghai Advanced Institute of Finance (SAIF), Jiaotong-Universität (seit 2011) beteiligt.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Ethik der Globalisierung und der Unternehmungsverantwortung von großen und kleinen Firmen. In seinen letzten wissenschaftlichen Artikeln entwickelte er ein neues, umfassendes Konzept der Schaffung von Reichtum und wendete es auf die wirtschaftliche Entwicklung Chinas seit 1978 an.
Sein Ausbildungsweg:
Dr. habil. (Wirtschaftsethik) an der Universität St. Gallen, 1986; Dr. rer. pol. (Volkswirtschaftslehre), Universität Freiburg, 1982; Lic. rer. pol. (Volkswirtschaftslehre), Universität Freiburg, 1976; Lic. theol. (Theologie), Faculté de Théologie, Lyon-Fourvière, 1973; Lic. phil. (Philosophie), Philosophische Hochschule, München/Pullach, 1967.
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