P. Friedhelm Hengsbach SJ ist emeritierter Professor der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
P. Friedhelm Hengsbach SJ ist emeritierter Professor der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
Dem Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach geht es in erster Linie darum, den inzwischen weltweit agierenden Finanzkapitalismus zu entgiften, betont der deutsche Sozialethiker und Jesuit Friedhelm Hengsbach. Denn die Finanzmärkte seien die offene Wunde der Realwirtschaft.
Hengsbach fordert als ersten Schritt den Aufbau einer europäischen Finanzarchitektur: „Da geht es um die Zurückgewinnung der Souveränität der Staaten gegenüber der Hegemonie der Finanzmärkte, der Banken, aber auch der Industriekonzerne. Die Autoindustrie kann ruckzuck eine Autowrackprämie in Europa gegenüber dem Staat durchsetzen. Auch Handelsketten, sobald sie eine gewisse Größe haben, können die Politik unter Druck setzen." Die staatlichen Entscheidungsträger würden zu kooperative Geiseln, sie seien erpressbar. Die Bankenrettung habe das gezeigt.
Europa brauche drei monetäre Institutionen, so Pater Friedhelm Hengsbach. „Die Europäische Zentralbank soll eine Balance zwischen einem hohen Beschäftigungsgrad und der Stabilität der Güterpreise als auch der Vermögenspreise herstellen. Ein Europäischer Währungsfonds soll in Anlehnung an das Bretton-Woods-System die regionalen Ungleichgewichte durch Kredite ausgleichen. Auf der einen Seite gibt er den Defizitländern kurzfristige Kredite, damit sie ihre Schieflage ausgleichen können, und andererseits sollen die Überschussländer so sanktioniert werden, dass sie Überschüsse abbauen. Und schließlich ist eine Europäische Entwicklungsbank notwendig, die Investitionshilfen für weniger entwickelte Regionen in Europa gibt."
Ein weiterer Schritt der Entgiftung sieht Hengsbach in einer Korrektur der kapitalistischen Verteilungsregel. Denn die betriebswirtschaftliche Logik des Kapitalismus lautet: Das Ziel des Unternehmens ist die Erhöhung des Geldvermögens. In normalen Unternehmen würden vier Ressourcen die unternehmerische Wertschöpfung erwirtschaften: das Naturvermögen, das Arbeitsvermögen, das Geldvermögen und das Gesellschaftsvermögen, darin eingeschlossen sind alle Infrastruktureinrichtungen, Bildung, Gesundheit, aber auch die unbezahlte Tätigkeit in der Kinderbetreuung und Altenpflege.
Hengsbach: „Diese Ressourcen arbeiten kollektiv an der unternehmerischen Wertschöpfung. In der betriebswirtschaftlichen Logik werden die Ressourcen Natur, Arbeit und Gesellschaft als Kostenfaktoren definiert. Das heißt, diese müssen gesenkt werden. Am Ende des gesamten Produktionsprozesses und der verkauften Waren fließt der relativ größere Anteil im Finanzkapitalismus auf das Konto der Kapitaleigner, während Steuern, Löhne, Umweltabgaben möglichst niedrig entgolten werden, im Extremfall zum Nulltarif in Anspruch genommen werden", so Friedhelm Hengsbach.
Um diese Schräglage zu ändern, sei die Stärkung der Kollektivlohn-Politik nötig: „Kein Unternehmer kann sich der Tarifbindung entziehen. Das soll auch gesetzlich verankert werden." Weiters solle die Form der Entstehung - was wird in welchem Ausmaß produziert - als auch die Verteilung der unternehmerischen Wertschöpfung kollektiv entschieden werden. „Es braucht eine paritätische Mitbestimmung in den Unternehmen, bei dem die vier Ressourcen paritätisch Einfluss auf den Entscheidungsprozess haben", sagt der Sozialethiker.
„Wir stehen in Europa vor einer Umschichtung von einer industriellen Konsumgesellschaft zu einer kulturellen Dienstleistungsgesellschaft", erklärt Friedhelm Hengsbach. Ziel neuer Beschäftigungsfelder sind personennahe Dienste: Bildung, Gesundheit, Pflege, Kommunikation, Kultur. „Diese Dienste haben ganz besondere Merkmale, die nicht in den Industriewaren zu finden sind. Sie kommen nur zustande etwa durch Kooperation zwischen Lehrer und Schüler oder Arzt und Patient. Es sind auch andere Kompetenzen, die ausgebildet werden müssen: heilen, helfen, begleiten, betreuen. Nicht zählen, wiegen, messen wie in der Industrie. Es sind öffentliche Güter: Die Gesundheit der einzelnen Menschen ist ein Gut, von dem alle profitieren: Familie, Nachbarn, die ganze Gesellschaft. Und es sind Grundrechte, auf die jeder Anspruch hat."
Seit etwa zwei Jahrzehnten gebe es den Trend zu längerer Erwerbsarbeit. Der Druck steige, die Zeitnot wachse, so Hengsbach. „Die Gewerkschaftsstrategie war immer die Lohnerhöhung der Produktivitätsrate entsprechend zu fordern. Die Reallohnentwicklung ist aber nicht der Produktionsrate gefolgt. Für den Jesuiten gibt es eine Alternative in der Politik, die Produktivität in Einkommenserhöhung umsetzen möchte: Zeitgewinn.
Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Konsum würden auf Kosten der individuellen Freizeit und der Umwelt gehen. „Die kollektive Arbeitszeitverkürzung wäre ein Beitrag auch andere Maßstäbe unseres gesellschaftlichen Lebens zu gewinnen", betont Hengsbach. „Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes ist ein fragwürdiger Gradmesser. Durch die Arbeitszeitverkürzung signalisieren wir selbst, dass es andere Wohlstandskriterien gibt als das materielle Wachstum. Lebensqualität können wir anders messen, nicht als Güterausstattung, sondern eher als Zeitwohlstand."