„Wenn jemand Hilfe braucht und ich in der Lage bin, sie zu geben, dann tue ich das einfach“, sagt Cornelia-Estella Haltrich.
„Wenn jemand Hilfe braucht und ich in der Lage bin, sie zu geben, dann tue ich das einfach“, sagt Cornelia-Estella Haltrich.
Nerven aus Stahl und ein offenes Herz. Wer das hat, kann eines werden, sagt Cornelia-Estella Haltrich: Krisenpflegemama. Für dreizehn Kinder war sie Mutter – und gab Liebe auf Zeit.
Es ist kalt in der Donaustadt. Hier im 22. Wiener Gemeindebezirk reiht sich Wohnblock an Wohnblock. In einem davon lebt Cornelia-Estella Haltrich. Der Stephansdom ist weit weg. „An schönen, klaren Tagen sehe ich ihn“, sagt die 49-jährige Mutter. Ihre Tochter Isabella ist 19, Sohn Philipp ist 21 und bereits ausgezogen.
Haltrich blickt aus dem Fenster im vierten Stock, blickt über die Siedlungshäuser mit den roten Schaukeln vorm Haus und den gefliesten Schildern mit eingravierten Familiennamen an den Türen. Auf dem weichen Wohnzimmersofa von Familie Haltrich liegt eine dicke, wiesengrüne Decke. Im offenen Kamin flackert Feuer. Auch wenn es kein echtes ist, die Wärme wirkt. Hier bei Frau Haltrich finden Kinder Zuflucht vor einer Welt, die keine heile ist.
„Klara, das war mein schlimmster Fall“, erinnert sich Haltrich an ihre Zeit als Krisenpflegemutter. Fünf Jahre lang, bis 2007, hat Haltrich dreizehn Kindern ein Zuhause gegeben, wenn das Zuhause der Kinder zu gefährlich geworden war. Wegen Gewalt, Drogen, Missbrauch.
Da bekam Haltrich einen Anruf und eine halbe Stunde später ein Kind wie Klara (Name geändert), das einfach nicht mehr aufhören kann zu schreien. „Als Krisenpflegemutter brauchst du Nerven aus Stahl“, sagt Haltrich, „und viel Liebe. Du bekommst ein kleines Wesen, das sich nicht ausdrücken kann, traumatisiert ist.“
44 Krisenpflegeeltern gibt es derzeit in Wien. Sie betreuen Babys und Kleinkinder, die nicht älter als drei Jahre sind. Und sie müssen vor allem eines können: wieder loslassen.
Die Notfallmama ist eine Zwischenstation, bis die Behörden klären, was da eigentlich los ist in der Familie – und eine Lösung finden. Die Hälfte der Krisenkinder kehrt zu den leiblichen Eltern zurück, die andere Hälfte kommt zu Pflegeeltern. Acht Wochen sind für die Krisenpflege offiziell vorgesehen. „Bei mir waren die Kinder durchschnittlich drei Monate“, erzählt Haltrich.
Für die Kinder bewirken die wenigen Monate mitunter so viel wie ein ganzes Jahr. „Ich habe Eineinhalbjährige gehabt“, sagt Haltrich, „die hatte man einfach ins Gitterbett gelegt, und damit war es gut. Stehen ging gerade mit irgendwie anhalten, von Gehen war keine Rede, Sprechen sowieso nicht. Wenn man dem Kind eine Biskotte in die Hand gegeben hat, wusste es nicht, was es damit machen soll.“ Bis zu ein Jahr hinkten diese Krisenkinder ihren Gleichaltrigen in der Entwicklung nach. Wenn sie Haltrich verließen, waren sie entwicklungstechnisch wieder am Stand.
Strahlende Augen und ein süßes Lächeln – das ist es, was Menschen mit kleinen Kindern verbinden. „Ich habe Kinder bekommen mit toten Augen“, sagt Haltrich. „Kinder mit leerem Blick, weit entfernt von irgendeinem Lachen. Wenn du dann aber, mit viel Herz und Aufmerksamkeit, bei manchen nach ein paar Wochen, bei anderen schon nach ein paar Tagen, erreichst, dass du da in den Augen wieder etwas siehst, ein Funkeln, so was wie ein Lächeln und irgendwann hörst du die Kinder tatsächlich wieder lachen – genau dafür tust du das. Da habe ich wahnsinnig viel von den Kindern zurückbekommen“.
Haltrichs Zeit als Krisenpflegemutter ist mittlerweile zehn Jahre her. Warum sie aufgehört hat? Daran ist Innocent schuld. „Innocent war das letzte Kind, das ich betreut habe. Wegen ihm bin ich ausgestiegen.“ Wenige Wochen ist der kleine Bub alt, als sie ihn 2006 vom Spital abholt. Und gerade auf Heroinentzug. „Ich habe die ersten sieben Monate halbsitzend geschlafen, weil er in der Nacht immer Krampfanfälle hatte. Das Einzige, das geholfen hat, war ihn auf meinen Bauch zu legen.“ Ein Jahr blieb Innocent bei ihr. Dann sollte er in ein Waisenhaus nach Osteuropa abgeschoben werden.
Heute ist Innocent zehn Jahre alt und ihr Pflegesohn. „Unser Paradiesvogel“, sagt Cornelia-Estella Haltrich. „Ein buntes Kind mit vielen Facetten.“ Durch die Heroinsucht seiner leiblichen Mutter ist er sehbeeinträchtigt. In der Schule arbeitet er mit Lesegerät. Und mit Erfolg. Innocent ist jetzt in der vierten Klasse. Bald schon geht er aufs Gymnasium.
„Kaum zu glauben, dass es in Österreich so verwahrloste Kinder gibt.“ – Was eine Krisenmama erzählt, hören Sie am Samstag, 18. März, von 19 - 20 Uhr.
Das DaCapo am Mittwoch, 22. März, von 21 - 22 Uhr.
Nachhörbar auf www.radioklassik.at als podcast.
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