Der gesamte Archivbestand, also das „Gewissen eines Ortes, eines Landes, einer Institution“ will gesichtet, geordnet, kategorisiert werden. Reinhard Gruber arbeitet alleine: „Der Domarchivar ist normalerweise nur von alten Schachteln umgeben.“
Der gesamte Archivbestand, also das „Gewissen eines Ortes, eines Landes, einer Institution“ will gesichtet, geordnet, kategorisiert werden. Reinhard Gruber arbeitet alleine: „Der Domarchivar ist normalerweise nur von alten Schachteln umgeben.“
Der erste Metropolitan- und Domarchivar Österreichs ist Reinhard Gruber – nur das passt auf keine Visitenkarte. Deshalb beschränkt er sich auf den Titel des „Domarchivars“: Unter diesen war er lange der Beste, Schönste und Unfähigste. Der gebürtige Oberinntaler spricht über die heiteren Seiten seines Berufs, die Klischees über Archivare und seine Verwurzelung im heil’gen Land Tirol.

"Tirol ist immer gut“, ist der erste Satz, den Reinhard Gruber, Mitte 40, in seinem Büro im Churhaus am Stephansplatz verlauten lässt. Auf seinem Schreibtisch liegt immer ein aktuelles Exemplar des „Tiroler Sonntags“. Gerahmte Bilder, die ihn jeweils gemeinsam mit den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. zeigen, stehen gleich neben der Tür.
Schon Polo-Shirt, Jeans und Turnschuhe lassen Zweifel aufkommen, ob das tatsächlich der Archivar ist. „Das Klischee, das man von einem Archivar hat, ist ja: Aschenbecher als Brillen, Ärmelschoner, leicht verstaubt“, fasst er zusammen. Ärmelschoner hat sein Poloshirt keine, seine Brille ist dezent, verstaubt scheint er nicht zu sein. Tatsächlich wird er oft gefragt, wo denn der Domarchivar sei.
Sportlich ist er auch: Als echter Tiroler kann er Skifahren, seit seinem Bandscheibenvorfall tut er es aber nicht mehr. Seit er der „erste Domarchivar der Geschichte“ ist, bleibt für sportliche Aktivitäten ohnehin nicht viel Raum: Der gesamte Archivbestand, also das „Gewissen eines Ortes, eines Landes, einer Institution“ will gesichtet, geordnet, kategorisiert werden. Viele Menschen leben nur noch in den Sterbe- und Begräbnisurkunden des Domarchivs fort, es ist ihr „einziges Gedächtnis“.
Dass diese Arbeit nicht immer packend ist, ist klar: „Es gibt Tätigkeiten, die sind einfach fad.“ Zumindest gibt es keine disziplinären Probleme mit dem Dienststellenleiter, denn „der Gruber schafft an, der Reinhard macht’s“. Er arbeitet alleine: „Der Domarchivar ist normalerweise nur von alten Schachteln umgeben.“
Die meiste Zeit ist die Tätigkeit aber fesselnd. Eine Archivalie ist zum Beispiel das älteste Sterbebuch Österreichs aus dem Jahr 1523. Auch eine Begräbnisrechnung vom 6. Dezember 1791 findet sich hier: Sie belegt, dass Wolfgang Amadeus Mozart bei leidlich schönem Wetter allein in einem Leichenwagen zu seinem Begräbnis dritter Klasse geführt wurde – das teurer war als ein Begräbnis zweiter Klasse. Doch die urbane Legende vom Armengrab hält sich.
Den Kontakt mit Menschen schließt der Archivarberuf nicht aus. Seit der Digitalisierung des Matrikenarchivs sind allerdings zwei Drittel der Besucher weggefallen. Keine Genealogentreffen gibt es mehr im Archivbüro des Churhauses, keine Entdeckungen werden mehr eifersüchtig vor den Augen der Kollegen verborgen. „Vor allem die Musikhistoriker, die hier geforscht haben, haben einen gewissen Futterneid gezeigt“, berichtet der Domarchivar. Inzwischen sind alle Forscher auf die digitalisierten Dokumente im Internetarchiv verwiesen.
Die meisten Fragen laufen jetzt über das Telefon. „Alle historischen und hysterischen Anfragen landen im Archiv“, erzählt Gruber. Er ist schon gefragt worden, wann zu Silvester die Pummerin läutet, wieviel Sitzplätze der Dom hat, oder ob er selbst schon einmal die steinernen Engel gezählt habe.
Ein Herr aus Luzern rief über lange Zeit einmal monatlich – immer an einem Montag – im Archiv an, um sich nach Dokumenten zu erkundigen, die eine Verehelichung des Dombaumeisters Adam Haresleben belegen würden. Reinhard Gruber wies höflich darauf hin, dass der Bestand nicht zu weit zurückreiche, worauf der Herr aus Luzern dankend das Gespräch beendete. Bis zum nächsten Monat.
Schon in seiner Kindheit zeigte sich sein historisches Interesse: Der zwölfjährige Reinhard Gruber gab seinen Klassenkameraden und Freunden Führungen im Zisterzienserstift Stams. Als Kind sammelte er Kirchenführer und sah sich auf Reisen jedes Gotteshaus an: „Meine Geschwister haben schon einen Horror gehabt.“ Seinen Eltern eröffnete er anlässlich seines ersten Besuchs im Stephansdom: „Ich will einen Schlüssel für diese Kirche!“
Seine Eltern förderten dieses Interesse und nach einem Theologiestudium in Innsbruck und Wien kam er 1995 als Faktotum an den Stephansdom, wo er zum Milleniumswechsel vom Domkapitel offiziell um Domarchivar ernannt wurde. Als „erster Domarchivar der Geschichte“ war er lange der „beste, schönste und gleichzeitig unfähigste“ Domarchivar in Personalunion. Inzwischen ist er nicht mehr der einzige.
Stolz ist Gruber auch auf den Kinderführer für den Stephansdom, den er verfasst hat, „Der Fenstergucker erzählt“. Nach langen Überlegungen setzte sich der berühmte „Fenstergucker“ gegen Steinengel und andere Konkurrenten durch und erklärt seither „Xandi“ und anderen Kindern den Dom.
Die dauernde Beschäftigung mit dem lange Vergangenen führt die eigene Endlichkeit stärker ins Bewusstsein: „Was bleibt von mir außer dem Aufbau eines Archivs?“ Diese Vorstellung erschreckt Reinhard Gruber aber weniger – immerhin sei er als erster Domarchivar von St. Stephan der Unsterblichkeit recht nahe gerückt. In der Pension möchte er (noch) ein Buch schreiben, als Titel schwebt ihm „Weihrauch und Exzess in St. Stephan“ vor – zumindest letzteres ist scherzhaft gemeint.
Privat bemüht sich der Archivar, dreimal in der Woche Sport zu machen. Einen Teil seines Arbeitsweges geht er zu Fuß. Theoretisch stünde ihm eine eigene Dienstwohnung am Stephansplatz zu, er bleibt aber lieber in seiner alten Wohnung, wo er sich um die Pflanzen in seiner Loggia kümmert und kocht. Da er „leidenschaftlicher Suppenesser“ ist, findet sich dort viel Liebstöckel, das Maggikraut.
Seine Besuche in seinem Heimatort im Bezirk Imst nutzt er, um sich mit Graukäse einzudecken: „Graukas ist ein Hit.“ Für Wiener fügt er erklärend hinzu: „Stinkt wie die Pest, gibt’s nur in Tirol.“ Süßes mag er nicht, „da ist kein Speck dabei“. Einen „leichten Kulturstress“ attestiert er sich selbst. Mehrere Abonnements führen dazu, dass er regelmäßig von Konzert zu Oper zu Konzert eilt.
Einen pragmatischen Zugang hat Gruber zum Phänomen „Pokémon Go“, dem Smartphone-Spiel, das letztes Jahr dazu geführt hatte, dass Fans im Stephansdom nach Pokémons suchten: „Wenn es junge Leute dazu bringt, den Dom zu besuchen, hab‘ ich nichts dagegen.“ Er selbst, fügt er hinzu, hat noch kein Monster getroffen – „zumindest nicht in der virtuellen Welt“.
Selbst besucht er den Sonntagsgottesdienst nicht in St. Stephan, ihm „fällt immer etwas auf“, was Konzentration und Andacht stört. Auch zu Hause hat er keine Bilder vom Dom mehr. Abschließend fasst er seinen Werdegang noch einmal zusammen: „Ich bin bei Speck, Schnaps und Katholizismus groß geworden.“

Reinhard Gruber liebt seine Arbeit und präsentiert gerne alte Schätze aus dem Archiv.
weitere Informationen zu
E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at