Matthias Beck: „Es ist faszinierend, zu erkennen, wie ein Organismus funktioniert und wie komplizierte Schaltmechanismen funktionieren. Für das christliche Menschenbild bringt es Positives – dass wir wieder staunen lernen.“
Matthias Beck: „Es ist faszinierend, zu erkennen, wie ein Organismus funktioniert und wie komplizierte Schaltmechanismen funktionieren. Für das christliche Menschenbild bringt es Positives – dass wir wieder staunen lernen.“
Die große Frage „Woher kommen wir?“ stellt sich der Mensch seit Urzeiten. Die mögliche Entschlüsselung des menschlichen Erbguts fügt diesen Fragen eine neue Dimension hinzu. Wer möchte, kann heute seine DNA analysieren lassen, um mehr über seine Herkunft zu erfahren. Was bedeutet das für Christen?
Der SONNTAG befragt Experten zum Thema und schaut sich den neuen Kinofilm „Das Testament“ an, der die Frage um Herkunft und Identität umkreist.
Kardinal König hat sich die Frage nach dem „Woher des Menschen“ immer wieder gestellt und darüber nachgedacht. Annemarie Fenzl, persönliche Sekretärin und engste Vertraute des Kardinals erinnert sich: „Seine drei Fragen nach dem Woher, dem Wohin und dem Wozu entsprangen seiner Ehrfurcht vor dem Geschenk seines eigenen Lebens“, sagt Fenzl.
Auf die Frage nach dem „Woher“ antwortete Franz König: „Wir kommen aus dem Geist Gottes. Er war im Anfang. Und dieser Geist, Gott selber, ist in jedem von uns, auch wenn wir ihn nicht wahrnehmen, auch wenn wir sein ‚Angesicht‘ mit dicken Schichten von Schlacke oder Asche bedecken.“
„Dieser Geist, den wir nicht sehen können, war für Kardinal König eine Realität“, erläutert Fenzl. Dieser Geist „begegnet uns überall, wo Menschen beten … er begegnet uns auch in jenen Menschen, die von diesem Geist erfüllt sind und deshalb anders leben als die meisten. Das Menschenleben ist das große Abenteuer mit dem Geist“ , sagte Kardinal König. Bis zu seinem Tod war er fest überzeugt: „Aus diesem Geist kommen wir und wir kehren zu diesem Geist zurück. Die Wegstrecke dazwischen ist unsere Lebensaufgabe.“
Die Frage „Woher komme ich?“ übt heute eine besondere Faszination auf die Menschen aus. Manche wollen ihren Stammbaum so weit, wie möglich zurückverfolgen.
Reinhard Gruber, Domarchivar zu St. Stephan in Wien, sagt: „Seit ich hier im Domarchiv tätig bin, habe ich einen ungeheuren Anstieg an genealogischen Nachfragen festgestellt.“ Das Interesse an der Ahnenforschung war so groß, dass sämtliche Matriken (Tauf,- Trauungs- und Sterbebücher) digitalisiert wurden und heute über das Internet einsehbar sind.
„Für manche ist es dringend notwendig herauszufinden, wer ihre Vorfahren waren, z. B. bei Restitutionsfragen, bei Angehörigen, die Opfer der Shoah wurden, bei Adoptivkindern und – heute – Kindern, die durch Samen- oder Eizellspende entstanden sind“, erklärt Reinhard Gruber.
Das Wissen um die eigene Herkunft kann helfen, Großeltern und Eltern besser zu verstehen, sagt der Domarchivar überzeugt.
Näheres über den Stammbaum zu erfahren, kann aber auch zur Belastung werden, etwa wenn unter den Vorfahren ein „Freimann“ gewesen ist. „Das deutet nicht auf adelige Wurzeln wie manche Ahnenforscher meinen: Der Freimann war im Mittelalter der Henker“, erklärt Gruber. So kann das Wissen um den Stammbaum auch zur Belastung werden.
Ahnenforschung ist heute ein blühender Geschäftszweig. Genealogieforen im Internet kombinieren u. a. die historische Stammbaumforschung mit DNA-Tests, die einfach per Post durchzuführen sind. Schon ab rund 70 Euro ist eine prozentuelle Einschätzung der Zugehörigkeit zu ethnischen Ahnen-Gruppen möglich.
Die mögliche Entschlüsselung des Genoms (Erbgut) lässt die Frage „Woher kommen wir?“ in neuem Licht erscheinen. Was bedeutet das für uns Christen?
Matthias Beck, Priester und Moraltheologe an der Universität Wien, im Gespräch mit dem SONNTAG: „Es ist faszinierend, zu erkennen, wie ein Organismus funktioniert und wie komplizierte Schaltmechanismen funktionieren. Für das christliche Menschenbild bringt es Positives – dass wir wieder staunen lernen.“
Die totale Analyse des eigenen Genoms birgt Chancen und Risiken. „Wenn jemand eine genetische Veranlagung für Hautkrebs hat, kann er dem vorbeugen. Es kann aber auch sein, dass jemand aufgrund einer Genanalyse an seinem Leben verzweifelt, weil er eine Krankheit auf sich zukommen sieht“, sagt Beck.
Gewinnbringend könne sein, dass der Einzelne mehr über seine Herkunft erfährt und vielleicht dadurch Verhaltensmuster besser versteht.
Eine Gefahr sieht der Theologe, wenn jemand plötzlich entdeckt, dass sein Vater gar nicht sein Vater oder seine Mutter nicht die Mutter ist. „Da wäre es sinnvoll, eine solche Analyse nur mit einer kompetenten genetischen und vielleicht sogar psychologischen Beratung zu verbinden“, empfiehlt Matthias Beck.
Ebenso sollte die DNA aus Datenschutzgründen nicht leichtfertig an Firmen aus dem Internet weitergegeben werden. Für Christen ist die Frage nach dem Woher Anlass, sich bewusst zu machen: Wir sind in Gott verwurzelt und gegründet (Kol 2,7).
Kardinal König zufolge stammen wir aus dem Geist Gottes und kehren dorthin zurück. „Diesem Abenteuer kann sich niemand entziehen“, meinte der Kardinal.
Filmtipp
Der jüdische Historiker Yoel Halberstam (Ori Pfeffer) betreibt Nachforschungen zu einem Massaker an 200 ungarischen Juden in einem österreichisch-ungarischen Grenzdorf, im Film Lendsdorf genannt.
Halberstam sucht fieberhaft nach dem verschollenen Massengrab, denn Lendsdorf plant eine Dorferweiterung, die weitere Grabungen unmöglich machen wird.
Im Zuge seiner Recherchen kommt er darauf, dass seine Mutter in den Wirren des Kriegsendes ihre Identität gefälscht hat und gar keine Jüdin ist – und er somit kein Jude. Yoel gerät zu seinem beruflichen Stress in eine tiefe Identitätskrise.
Ein sehenswerter Film über die Suche nach Wahrheit und deren schmerzhafte Nebenwirkungen.
Regie: A. Greenberg,
zu sehen im Stadtkino Wien.
die Zeitung der Erzdiözese Wien
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