Wolfgang Treitler: „Es ist schön, wenn man dem Berg seine Höhe abgerungen hat und der Berg einem das zurückschenkt. Die Abfahrt geht von selbst, und ist ein herrliches Gefühl.“
Wolfgang Treitler: „Es ist schön, wenn man dem Berg seine Höhe abgerungen hat und der Berg einem das zurückschenkt. Die Abfahrt geht von selbst, und ist ein herrliches Gefühl.“
Beten und Radfahren, besonders das Bergfahren, bezeichnet Wolfgang Treitler als eine „von außen betrachtet sinnlose Tätigkeit“. Wie das gemeint ist und welche Verbindung zwischen Theologie und Radsport besteht, erklärt der Wiener Theologieprofessor im Interview der Woche. Über die Erfahrung von Grenzen und Körperlichkeit – und über einen Moment völliger Freiheit, den er fast nicht überlebt hätte.
Wir feiern in diesen Tagen den 200. Geburtstag des Fahrrads. Am 12. Juni 1817 fuhr Karl Freiherr von Drais erstmals mit seiner neuen Erfindung durch die Straßen Mannheims – zu diesem Zeitpunkt war es noch ein Laufrad.
Heute ist das Radfahren aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken, für den Wiener Theologen Wolfgang Treitler ist es zur Passion geworden: Er fährt mit dem Rad zur Uni und strampelt sich bei Radrennen ab. Ob es regnet, schneit oder friert, er trotzt jedem Wetter – notfalls montiert er Spike-Reifen aufs Rad.
Sein Arbeitsplatz, das Institut für theologische Grundlagenforschung, liegt in der Wiener Innenstadt, zuhause ist Wolfgang Treitler am südlichen Stadtrand.
„Ich habe als Arbeitsweg 17 Kilometer. Das funktioniert nach Wien sehr gut, weil der Weg leicht fallend ist, und nach Hause bin ich in Erwartung einer frischen Dusche“, erzählt er. „In der Freizeit fahre ich mit dem Rennrad in den Wienerwald hinaus. Ich liebe es, so durch den Wald zu ziehen, und nichts zu tun, außer nichts zu tun – auf dem Rad.“
Ich habe den Eindruck, Sie brauchen das Radfahren wie das tägliche Brot?
Ja! Das Radfahren hat etwas Absurdes. Ich sage mir das selber immer wieder: Ich fahre weg, um dort anzukommen, von wo ich weggefahren bin. Dazwischen vergeht Zeit. Genauso auch beim Berg: Ich fahre hinauf und wieder hinunter. Wenn man mit dem Radfahren beginnt, sind Berge die größten Gegner, weil man ständig das Gefühl hat, man unterliegt. Man plagt sich und weiß gar nicht, ob man hinaufkommt. Aber das kommt mit der Übung. Am Anfang habe ich mir einmal gesagt: „Ich versuche einen langen Berg ohne Absteigen zu fahren.“
Vielleicht die größte Nähe von sinnloser Tätigkeiten wie dem Bergauf- und -abfahren finde ich im Bereich des Gebetes. Das Gebet ist von außen betrachtet auch sinnlos, weil man nicht weiß, was es und ob es etwas bewirkt, und wohin man damit kommt. Man kann es bei den Mönchen sehen: Im Laufe der Zeit bringt die Übung einen Zugang zum Gebet, den man ohne die Übung nicht finden kann.
Nur wenn ich eine Sache übe, beginne ich sie gleichsam von innen her zu erfassen. Was Bergfahren an Schönheit bedeutet, erfährt man erst in der Übung, auch im Vertrautwerden mit dem Berg und mit den eigenen Fähigkeiten, die sich langsam steigern. Für mich ist das Radfahren nichts Fremdes mehr, es gehört zu mir. Auch das sinnlose Hinauf- und Hinabfahren. Es ist schön, wenn man dem Berg seine Höhe abgerungen hat und der Berg einem das zurückschenkt. Die Abfahrt geht von selbst, und ist ein herrliches Gefühl.
Für Sie haben der „Sport auf zwei Rädern“ und die Erforschung des Gottesglaubens auffällige Parallelen, vor allem die Erfahrung von Grenzen. Wie meinen Sie das?
Ich habe als neunjähriger Bub in den Ferien eine seltsame Erfahrung gemacht, die eigentlich zum Menschensein gehört. Ich bin im Haus der Großeltern am Abend im Bett gelegen und draufgekommen, dass es einmal ans Ende geht. Ich mache diese Erfahrung in veränderter Form auch beim Radfahren.
Es ist für mich eine Erfahrung spiritueller Weisheit, dass mein Leben einen Bogen hat, der sich neigt. Ich kenne beim Radfahren echte Grenzerfahrungen, die ich nicht übersteigen kann, und sie nehmen im Laufe der Zeit zu. Ich weiß, was vor 30 Jahren leistbar war und heute nicht mehr ist. Wenn ich das mit meiner eigenen Arbeit verbinde, macht es mich sehr vorsichtig vor den Parolen: „Wir müssen die Besten der Besten sein!“ oder „Ständiges Wachstum, stetige Steigerung ist entscheidend!“ Das wird im Sport, den ich mache, ständig widerlegt.
Sie nehmen regelmäßig an Rad-Wettbewerben teil und hatten 1989 einen schweren Unfall. Was ist geschehen?
Ich bin mit dem Hinterkopf auf der Straße aufgeschlagen und war sofort bewusstlos. Ich kann mich noch erinnern. Ich habe eine Drehung mit dem Rad gemacht wie die Hochspringer, die rücklings fliegen. Dieser Moment von der Wahrnehmung des unvermeidlichen Unfalls bis zum Aufschlag, den ich nicht mehr gespürt habe, war – auch wenn es seltsam klingt – vielleicht der glücklichste Moment in meinem Leben. Weil ich in einem kurzen Augenblick von einem Glücksgefühl erfüllt war, das mir gesagt hat: „Du bist völlig frei. Es gibt keine Last und Pflicht.“
Wirkt diese Erfahrung bis heute nach?
Ja! Ich habe seither keine Angst mehr, das Finale meines Lebens zu erleben. Ich denke, es gibt so etwas wie die Gnade der menschlichen Natur, die sich zum Schluss über den Menschen beugt und ihm einen guten Ausgang schenkt.
Theologie ist eine Wissenschaft, die sich mit den ersten und letzten Dingen beschäftigt. Sie sagen, sie muss sich auch mit den mittleren Dingen beschäftigen. Was heißt das konkret?
Die Frage lautet: Wenn ich mich als Geschöpf Gottes verstehen darf, wie lebe ich dann so, dass dies verantwortlich ist? Da gehört für mich das Radfahren durchaus dazu. Es geht nicht nur um die Grenzerfahrung, sondern auch um die Lebenshaltung: Wie lebe ich nach Möglichkeit schonend für die Umwelt. Was zeige ich den Mitmenschen, wie man leben kann? Ich halte es für eine wichtige Sache, wie es Papst Franziskus sehr forciert, eine Art Haltung des Verzichts zu üben. Nicht mit strenger asketischer Manier, sondern nach Alternativen zu suchen, wie dieser Verzicht lebbar ist und wie er Freude machen kann.
Bevor Wolfgang Treitler nun den Helm aufsetzt und sich in Richtung Universität aufs Radl schwingt, frage ich nach seinen langfristigen Zielen außerhalb des Radsports: „Ich möchte meinen Kindern einen Lebensstil zeigen, der sich nicht abhängig macht vom Übermaß an Energiebereitstellung. Sie haben einen Körper, mit dem sie mehr anstellen können, als ihn vor den Computer oder Fernseher zu setzen“, antwortet er. „Bei den Studenten möchte ich, dass sie merken, dass das Theologiestudium mit echter Reflexion zu tun hat - nicht des eigenen Glaubens, sondern des kirchlichen Glaubens, die dann auf den eigenen Glauben zurückwirkt.“
zur Person
„Ich kenne beim Radfahren echte Grenzerfahrungen, die ich nicht übersteigen kann“, sagt Theologieprofessor Wolfgang Treitler.
Wolfgang Treitler (Jahrgang 1961) ist Professor am Institut für theologische Grundlagenforschung, an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Vor fast 40 Jahren begann er – zeitgleich mit dem Theologiestudium – mit dem Radsport. Einen Unfall bei einem Radrennen 1989 überlebte er nur knapp. Er fährt täglich und zu jeder Jahreszeit mit dem Rad, zur Uni, im Urlaub und bei Meisterschaften - selbstverständlich immer mit Helm.
Wie Wolfgang Treitler zum Radsport kam, schildert er am Freitag, 16. Juni 2017, um 17.30 Uhr in den Lebenswegen auf radio klassik Stephansdom.
„Wie zwei Räder ins Rollen kamen“ erfahren Sie bereits am Montag, 12. Juni 2017, in der Perspektivensendung, ebenfalls um 17.30 Uhr.
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