Mehr als 2.100 Jüdinnen und Juden wurden vom Wiener Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert. Gedenkveranstaltung in Bezirksvorstehung Wien 2 erinnerte an die Opfer.
Den mehr als 2.100 Jüdinnen und Juden, die vom Wiener Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert wurden, war der heurige "Tag des Gedenkens" in Wien gewidmet. Das Nordbahnviertel ist derzeit eines der aktivsten städtebaulichen Viertel Wiens, der frühere Nordbahnhof als Deportationsort sei allerdings kaum im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, so der Tenor der Veranstaltung. Gerade wenn es um den Nordbahnhof gehe, auf dem jetzt ein riesiges Wohnareal mit Park entstehen solle, "müssen die Menschen wissen, dass viele hier ihr Leben verloren, bevor sie es wirklich leben konnten", so Elisabeth Lutter von der "Vernetzten Ökumene Wien". Die Initiative war gemeinsam mit dem Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hauptveranstalter des Gedenkens.
Mit dabei in der Bezirksvorstehung Wien 2 waren u.a. der Wiener Dechant Ferenc Simon, der serbisch-orthodoxe Bischof Andrej Cilerdzic, Awi Blumenfeld von der Pädagogischen Hochschule Wien-Krems, Bezirksvorsteher Alexander Nikolai und Prof. Martin Jäggle, Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Den historischen Hintergrund - 85 Jahre "Reichskristallnacht", 80 Jahre Deportationen vom Nordbahnhof - erläuterten die Wiener Historikerinnen Prof. Martha Keil, und Michaela Raggam-Blesch. Zu Beginn der großen Deportationen im Februar 1941 lebten noch rund 61.000 Jüdinnen und Juden, denen die Flucht nicht gelungen war, in Wien, so Raggam-Blesch von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Schon zwischen Februar und März 1941 seien mehr als 5.000 Jüdinnen und Juden vom Aspangbahnhof in polnische Kleinstädte deportiert worden, von denen die überwiegende Mehrheit in den darauffolgenden Jahren in Vernichtungslagern ermordet wurden.
Im Oktober 1941 begannen schließlich die reichsweiten Deportationen, innerhalb eines Jahres wurden über 40.500 Frauen, Männer und Kinder in 40 Transporten vom Aspangbahnhof in Ghettos, Mordstätten und Vernichtungslager im Osten deportiert. Parallel dazu erfolgten in dieser Zeit bereits Einzeltransporte vom Nordbahnhof nach Auschwitz, wobei es sich um "Schutzhäftlinge" der Gestapo handelte. Bis auf einen einzigen, ursprünglich für Theresienstadt bestimmten Transport im Sommer 1942 verließen alle direkten Auschwitz-Transporte Wien vom Nordbahnhof.
Nach der Deportation des Großteils der jüdischen Bevölkerung wurde die Israelitische Kultusgemeinde Wien Ende Oktober 1942 aufgelöst und in den "Ältestenrat der Juden in Wien" umgewandelt, der von nun an für die wenigen in Wien verbliebenen Personen zuständig war, die nach NS-Gesetzen als Jüdinnen und Juden galten - der Großteil davon Angehörige von "Mischehefamilien", die durch einen nichtjüdischen Partner oder Elternteil geschützt waren.
Im Falle einer Scheidung oder nach dem Tod des "arischen" Partners hätten jüdische Familienmitglieder allerdings diesen Schutz verloren, so Raggam-Blesch. Von Dezember 1942 bis Kriegsende wurden immer wieder kleinere Gruppen sowie Einzelpersonen vom Wiener Nordbahnhof nach Theresienstadt deportiert - darunter auch viele Angestellte des "Ältestenrats", der seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf Anweisung der NS-Behörden laufend reduzieren musste.
Die Einzeldeportationen und Gruppentransporte wurden aber nicht über das reguläre Bahnhofsgebäude durchgeführt, vielmehr wurden die Menschen an der Postrampe "einwagoniert", wie es damals hieß. Wie durchorganisiert die Transporte abliefen, zeige auch ein eigens für Gefangenentransporte erstelltes Kursbuch, das von der Reichsbahn Berlin herausgegeben wurde, so die Historikerin.
Da die antijüdische Gesetzgebung immer weitere Bereiche des Lebens betraf, kam es zu einer zunehmenden Kriminalisierung des jüdischen Alltags, da beispielsweise sowohl das Halten von Haustieren als auch das Kaufen von Kuchen für Juden verboten war. Jüdinnen und Juden durften ohne Genehmigung keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen und waren ab Juli 1942 von jeglicher Form des schulischen Unterrichts ausgeschlossen. Wurden Betroffene ohne "Judenstern" oder mit für Juden verbotenen Waren angetroffen, kamen sie in "Schutzhaft" und wurden zumeist aufgrund solcher "Vergehen" vom Nordbahnhof nach Auschwitz deportiert.
Die Zahl der vom Wiener Nordbahnhof deportierten jüdischen Österreicherinnen und Österreicher lässt sich laut Raggam-Blesch aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht exakt feststellen, da auch Jüdinnen und Juden aus anderen Teilen des Deutschen Reiches nach gescheitertem Fluchtversuch über den Nordbahnhof deportiert wurden. Derzeit wird die Zahl der österreichischen Deportierten auf gut 2.140 Personen geschätzt.
Vom Nordbahnhof seien aber nicht nur Juden, sondern auch österreichische Roma und Sinti nach Auschwitz deportiert worden. Deren genaue Zahl sei ungeklärt und bedürfe weiterer Forschung, so Raggam-Blesch.
Die Historikerin Martha Keil erinnerte in ihrem Vortrag daran, dass der Begriff "Reichskristallnacht" als Bezeichnung für die Novemberpogrome 1938 vom NS-Propagandaminister Joseph Goebbels stammte, um die Vorkommnisse zu verharmlosen. In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte sowie Wohnungen zerstört und verwüstet. Zahlreiche Juden wurden bei den Pogromen getötet oder verletzt. Allein in Wien wurden im Zuge des Nazi-Terrors insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstör, viele davon auch erst am helllichten Tag. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp unter 4.000 davon wurden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.
In ihrem Vortrag nannte Keil auch die Namen einiger Opfer des Nationalsozialismus. "Wenn man einem Menschen seinen Namen nimmt, sodass von ihm keine Spur mehr übrig bleibt, dann ist das das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann." Umgekehrt sei es die größte Ehre, die man jemandem erweisen könne, wenn man seinen Namen bewahren. "Hinter einem Namen steht ein Mensch, hinter einer Zahl steht nichts", so Keil.
Der Vorsitzende des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Martin Jäggle, sprach zum Thema "Geschwisterlichkeit statt Judenfeindschaft". Er nannte das Jahr 1988 als Wendepunkt. Seither habe sich u.a. im Bildungs- und Forschungsbereich viel getan und Österreich würde sich seiner Geschichte stellen. Im Blick auf die Geschwisterlichkeit erinnerte Jäggle an den Theologen und Schriftsteller Schalom Ben-Chorin, von dem das Zitat stammt: "Der Glaube Jesu eint uns, der Glaube an Jesus trennt uns". Das anzuerkennen sei zentral, so Jäggle.
Willy Weisz, Vizepräsident der Koordinierungsausschusses, vertrat bei der Veranstaltung IKG-Generalsekretär Benjamin Nägele. Weisz wies in seinen Begrüßungsworten auf das inzwischen wieder vielfältige und lebendige jüdische Leben in Wien hin.
Der "Tag des Gedenkens" findet seit einigen Jahren in Wien im Vorfeld des Tages des Judentums (17. Jänner) statt.