Es gibt Geschichten, die einen nicht loslassen. Sie bohren sich tief in die Seele und hinterlassen Spuren. Synodenblog von Georg Schimmerl.
Eine solche Geschichte hat mich vergangenen Samstag bei der Pressekonferenz am Ende der ersten Synodenwoche getroffen: das Zeugnis von Bischof Mounir Khairallah, dem maronitischen Bischof von Batrun im Libanon.
Khairallah, ein polyglotter und charismatischer Mann, strahlt eine schwermütige Güte aus. Es ist keine leichtfüßige, spielerische Freundlichkeit, sondern eine Art von Liebenswürdigkeit, die tief in sein Wesen eingebrannt ist – geboren aus unvorstellbarem Schmerz. Alles beginnt mit einer grausamen Tragödie, die sein ganzes Leben prägen sollte: Als Fünfjähriger erlebt er mit seinen drei Geschwistern die bestialische Ermordung von Vater und Mutter. Man stelle sich das vor: Ein kleines Kind, hilflos und voller Fragen, dessen Leben über Nacht in sprachlose Finsternis getaucht wird. Seine Eltern, auf unbarmherzige Weise getötet, und er selbst mit dieser unauslöschlichen Erinnerung allein. Man könnte erwarten, dass aus diesem Kind nur ein Rächer und Mörder werden kann. Doch was Khairallah aus dieser Tragödie gemacht hat, ist ein Zeugnis für die Kraft der bedingungslosen Bereitschaft zur Vergebung.
Seine Tante, eine Nonne eines maronitischen Frauenordens, nimmt ihn und seine Geschwister bei sich auf. Sie bringt sie in die Kirche und lehrt sie das, was man kaum von einem Kind erwarten kann: Vergebung. Sie lehrt die vier Vollwaisen nicht nur für ihre Eltern zu beten, die nun Märtyrer seien, sondern vor allem für den, der ihnen das angetan hatte. „Wenn ihr vergeben könnt, werdet ihr wahre Kinder eures himmlischen Vaters“, so die Worte der Tante. Er wird sie niemals vergessen.
Diese Worte bleiben in Khairallahs Herz. Vergebung, ein Konzept, das wir oft nur theoretisch erfassen, wird für ihn zum Lebensprinzip. Sein Leben ist ein Zeugnis davon, dass wahre Vergebung nicht aus der Entfernung, sondern im Angesicht des Schmerzes und der Wunden wächst.
Als Khairallah später Priester wird, entscheidet er sich bewusst dafür, seine Weihe am Jahrestag der Ermordung seiner Eltern zu feiern. Dieser Tag markiert für ihn das Ende seines alten Lebens und den Beginn eines neuen, ein Symbol für das Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt, um Frucht zu bringen. Und Khairallah ist die Frucht dieses Opfers.
Doch die Geschichte ist damit nicht zu Ende. Während des libanesischen Bürgerkriegs, als er jungen Menschen von Vergebung erzählt, begegnet er dem Unverständnis und der Skepsis derer, die den Krieg am eigenen Leib erleben. Wie kann man von Vergebung sprechen, wenn der Feind vor der Tür steht? Wenn Hass und Gewalt den Alltag prägen? Khairallah erzählt ihnen seine eigene Geschichte. Da trifft ihn die Frage eines jungen Mannes ins Herz: „Was würdest du tun, wenn der Mörder deiner Eltern vor dir im Beichtstuhl sitzt und um Vergebung bittet?“
Diese Frage, so sagt Khairallah, verändert alles. Es ist leicht, aus der Ferne zu vergeben, ohne dem Täter jemals gegenüberzustehen. Aber ihn vor sich zu haben, das ist etwas ganz anderes. Und doch, nach einem Moment des Innehaltens, kommt seine Antwort: „Ja, ich würde ihm vergeben. Denn Vergebung ist schwer, aber nicht unmöglich.“
Das Zeugnis dieses libanesischen Bischofs macht jede Gegenrede unmöglich. Vergebung ist kein abstraktes Konzept, keine fromme Geste. Es ist eine Entscheidung, die tief in uns geboren wird, oft gegen all unsere menschlichen Instinkte. Khairallah macht nicht fromme Worte, er lebt Versöhnung. Er zeigt, dass Vergebung der einzige Weg zum Frieden ist.
In einer Welt, die von Krieg und Feindseligkeit zerrissen ist, erinnern uns Geschichten wie diese daran, dass der wahre Feind nicht die Menschen sind, sondern der Hass selbst. Bischof Khairallah fordert uns auf, die politischen Interessen und die Machtspiele der Großen hinter uns zu lassen. Es sind nicht die Völker, die Krieg wollen, sagt er, sondern jene, die den Krieg schüren. Und es liegt an uns, den Frieden zu bauen – für unsere Kinder, für zukünftige Generationen.
Diese Geschichte wird mich nicht so schnell loslassen. Sie erinnert mich daran, dass Vergebung mehr ist als ein Wort: Es ist ein Weg, für den wir uns jeden Tag aufs Neue entscheiden müssen.