Es ist wichtig, dass sich die Gläubigen – und nicht nur die Theologen – begegnen. Wir müssen uns aneinander gewöhnen.
Es ist wichtig, dass sich die Gläubigen – und nicht nur die Theologen – begegnen. Wir müssen uns aneinander gewöhnen.
Über Frère Roger, die Ziele der Gemeinschaft und ihre Zukunft spricht Frère Alois Löser im Interview. Er leitet seit zehn Jahren als Prior die Kommunität.
Die Gemeinschaft von Taizé begeht heuer den 100. Geburtstag und den zehnten Todestag von Frère Roger. Wie geht es Ihrer Gemeinschaft zehn Jahre nach dem Verlust ihres Gründers?
FRERE ALOIS: Frère Roger fehlt uns noch immer. Er hatte in Taizé alles begonnen: das Gebet, das Singen, das Hören auf die Schrift, die Zeit in der Stille und dass die Brüder lange in der Kirche bleiben, um einzelnen Jugendlichen zuzuhören – all das geht wesentlich auf ihn zurück.
Wir sind sehr dankbar, dass wir auf diesem Weg weitergehen können und Jugendliche hier weiterhin nach einer Vertiefung ihres Glaubens und nach Solidarität suchen. Das bedeutet auch: Was Frère Roger begonnen hat, war nicht an seine Person gebunden.
Heißt das nicht auch, dass die Spiritualität von Frère Roger weiter präsent ist?
FRERE ALOIS: Ja, vor allem in der Art, wie wir Brüder zusammenleben. Frère Roger wollte, dass wir wie eine Familie leben, mit einem Minimum an Strukturen. Er hat uns eine „Regel“ und einige grundlegende Texte hinterlassen, die „Quellen von Taizé“.
Aber entscheidend war für ihn, dass das gemeinsame Leben auf brüderlicher Liebe und gegenseitiger Achtung beruht. Das ist es auch, was viele Jugendliche bei uns suchen: einen Ort, an dem versucht wird, direkt aus dem Evangelium zu leben.
Was ist die inhaltliche Klammer über den drei Jahrestagen, die Sie heuer begehen?
FRERE ALOIS: Wir haben das Thema Solidarität gewählt, weil für Frère Roger der Glaube ganz eng mit einer bestimmten Lebensweise verbunden war. Der Glaube ist keine Theorie.
Frère Roger sprach immer von Vertrauen: Das Vertrauen auf Gott lässt uns auf andere zugehen – um Vertrauen zu schaffen und Grenzen zu überschreiten. Für Frère Roger war es zum Beispiel wichtig, die einstige Trennung Europas in Ost und West nicht fatalistisch hinzunehmen, sondern kleine Wege zu suchen, wie Solidarität wachsen kann. Das wollen wir weiterführen.
In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein einer weltweiten Gemeinschaft stärker geworden. Die Menschheit wächst zusammen. Die Tatsache, dass viele Menschen aus anderen Kontinenten als Flüchtlinge nach Europa kommen, stellt uns vor große Probleme. Dem können wir uns nicht verschließen. Das sind Fragen, die wir im Laufe dieses Jahres angehen wollen.
Angesichts der Flüchtlinge, die zum Beispiel auf extrem gefährlichen Booten nach Europa kommen wollen, schleichen sich Gefühle der Hilf- und Machtlosigkeit ein. Was kann man tun?
FRERE ALOIS: Ich habe in Rom vor Kurzem das Flüchtlingszentrum der Jesuiten besucht und gesehen, dass wir in Wirklichkeit viel tun können.
Wichtig ist zunächst, dass wir Ängste abbauen und auf die Menschen zugehen, die zu uns kommen, dass wir sie uns ihre Geschichten erzählen lassen. Natürlich geht
es dabei auch um politische Fragen.
Aber es braucht vor allem eine große Offenheit. Ich erinnere mich, wie Österreich im Bosnienkonflikt in den 90er-Jahren viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Die Kirchen in den verschiedenen Ländern Europas tun auch heute sehr viel.
Wir als Gemeinschaft von Taizé sprechen diese Themen bei unseren Treffen immer wieder an und hoffen, dass viele Menschen ihr Herz öffnen und in ihren Ländern konkrete Schritte unternehmen, um den Flüchtlingen zu begegnen.
Sie haben den früheren Ost-West-Konflikt angesprochen: Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland erinnert in gewisser Weise an diese Vergangenheit. Sie waren heuer selbst schon in Moskau und Kiew. Was waren Ihre Eindrücke?
FRERE ALOIS: Fünf Brüder unserer Gemeinschaft und etwa hundert Jugendliche aus 15 europäischen Ländern haben in Moskau das orthodoxe Osterfest gefeiert. Von dort sind wir nach Weißrussland gefahren und haben dann die verbleibenden Tage der orthodoxen Osterwoche in der Ukraine, in Kiew und Lwiw (Lemberg), verbracht.
Eindrucksvoll war, dass auch einige russische Jugendliche in die Ukraine mitgekommen sind. Sie haben mit uns dort ein Armeespital besucht und mit verwundeten ukrainischen Soldaten gesprochen. Das sind ganz kleine Schritte der Begegnung, des Vertrauens. Aber es sind konkrete Schritte.
Taizé ist ein Zentrum der Ökumene. Auch Papst Franziskus ist der Kontakt zu anderen christlichen Konfessionen offenbar wichtig. Wie erleben Sie das?
FRERE ALOIS: Ich hatte bisher zwei Audienzen bei Papst Franziskus, zuletzt im heurigen März. Beide Male hatte ich sofort die Gewissheit, dass er neue Schritte in der Ökumene gehen wird, weil er spontan auf die anderen zugeht.
Sein Grundsatz ist klar: Es gilt, die Gaben Gottes zu entdecken, die in den anderen Konfessionen lebendig sind. Gott hat sie dorthin gelegt, damit wir sie dort finden. Wenn wir versuchen, dies in die Praxis umzusetzen, dann wird die Ökumene einen neuen Elan erfahren, der aus dem konkreten Aufeinanderzugehen kommt. Und ich bin sicher, dass das auch im theologischen Dialog neue Wege öffnen wird.
Also braucht es zunächst die konkrete Begegnung?
FRERE ALOIS: Genau. Es ist wichtig, dass wir noch öfter unter einem Dach zusammenkommen – nicht, weil wir die Unterschiede verwischen wollen, sondern weil wir alle das klare Bewusstsein haben, dass Christus nicht geteilt ist und uns aufruft, Wege zur Einheit zu finden.
Ich sage das auch aus unserer jahrzehntelangen Erfahrung in Taizé heraus: Wir Brüder kommen aus der katholischen Kirche und aus verschiedenen evangelischen Konfessionen.
Aber wir merken durch das gemeinsame Leben und das Gebet dreimal am Tag, dass dieses Zusammenkommen unter einem Dach Wege der Einheit öffnet.
Es ist wichtig, dass sich die Gläubigen – und nicht nur die Theologen – begegnen. Wir müssen uns aneinander gewöhnen. Es gibt bereits viele theologische Konsensschriften, die in unseren Kirchen allerdings noch zu wenig wahrgenommen werden.
Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit scheint heute eher der Dialog mit dem Islam als die innerchristliche Ökumene zu stehen. Was sind da Ihre Ansätze in Taizé?
FRERE ALOIS: Für die Zukunft wird es entscheidend sein, den Dialog zwischen Christen und Muslimen auszuweiten. Nach den Attentaten in Paris im Jänner haben wir überlegt, was wir als Gemeinschaft von Taizé tun können.
Ein Schritt war, dass wir alle zusammen nach Chalon-sur-Saône – die nächstgrößere Stadt von hier aus – gefahren sind, um den dortigen Imam zu treffen und beim Gebet im Gebetshaus anwesend zu sein. Wir waren sehr berührt, wie dankbar die Menschen dort waren, dass wir gekommen sind. Es sollte ein Zeichen sein, dass wir nicht alle Muslime über einen Kamm scheren und daran glauben, dass es Muslime gibt, die in ihrer Religion eine Quelle des Friedens – und nicht der Gewalt – sehen.
Das Jubiläum 75 Jahre sind nicht nur Anlass zum Rückblick: Was erhoffen Sie sich für die Gemeinschaft von Taizé für die Zukunft?
FRERE ALOIS: Ich erhoffe mir, dass unsere Kommunität weiterhin so lebendig bleibt, und wir uns als kleine Gemeinschaft, die wie alle Menschen im Leben auch Schweres durchzustehen hat, uns vom Vertrauen auf Christus leiten lassen.
Ich bin überzeugt: Nur wenn wir dieses Vertrauen selbst leben, kann auch etwas von diesem Vertrauen des Evangeliums ausstrahlen.
Frère Alois Löser
(franz. Frère „Bruder“) ist seit August 2005 der Prior der ökumenischen Bruderschaft von Taizé und Nachfolger des Gründers Roger Schutz
Die Gemeinschaft von Taizé (Communauté de Taizé) ist eine ökumenische Brüdergemeinschaft:
1940 kam der Gründer Roger Schutz (Frère Roger) in die kleine Ortschaft Taizé in Burgund (Frankreich) und legte dort den Grundstein der Gemeinschaft. Während der Kriegszeit versteckten Frère Roger, seine Schwester Geneviève und Freunde Verfolgte. Schließlich musste Frère Roger selbst fliehen, kehrte 1944 aber nach Taizé zurück und leitete als Prior die entstehende Gemeinschaft. Am 16. August 2005 wurde er während des Abendgebets von einer psychisch kranken Frau tödlich verletzt.
Einfachheit.
Taizé ist ein Zentrum der ökumenischen Bewegung. Der Gemeinschaft gehören heute rund 100 Männer aus mehr als 25 Ländern an, die aus der katholischen und verschiedenen evangelischen Kirchen stammen.
Taizé wurde auch zum Treffpunkt für Jugendliche aus aller Welt. Seit 1974 Zehntausende zu einem „Konzil der Jugend“ zusammenkamen, veranstalten die Taizé-Brüder regelmäßig Jugendtreffen in allen Teilen der Welt.
Das Ziel der Gemeinschaft ist, sich für eine Aussöhnung zwischen den Konfessionen und eine europäische Verständigung einzusetzen. Bekannt ist die Gemeinschaft von Taizé außerdem für ihren einfachen Lebensstil, Solidarität mit den Armen und meditative, eingängige Gesänge.
Jahresmotto.
Das heurige Fest- und Gedenkjahr von Taizé steht unter dem Motto „Auf dem Weg zu einer neuen Solidarität“. Am 9. August beginnt eine einwöchige „Versammlung für eine neue Solidarität“ für junge Menschen bis 35 Jahre, die am Todestag von Frère Roger am 16. August endet.
Die Wiener Kirchenzeitung "Der Sonntag"