Dr. Rainer Bucher, Institut für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Dr. Rainer Bucher, Institut für Pastoraltheologie an der Universität Graz.
Warum das "Mehr der Liebe" den geschwisterlichen Umgang in den Pfarren und Gemeinschaften prägen soll, sagt der Pastoraltheologe Rainer Bucher.
Es gibt zwei Grundweisen, wie Christinnen und Christen untereinander und überhaupt mit allen Menschen umgehen sollen: Gerechtigkeit und Liebe. Für die Gerechtigkeit hilft sehr die "Goldene Regel". Sie ist praktisch in allen Kulturen bekannt, steht auch in der Bibel und wird sogar von Jesus selbst überliefert: "Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten." (Matthäus 7,12)
In unserem Falle heißt das schlicht: Jeder Christ, jeder Christin sollte überlegen, wie er denn in katholischen Pfarren empfangen, auf- und wahrgenommen werden möchte, wenn er oder sie wiederverheiratet geschieden wäre oder sexuell gleichgeschlechtlich orientiert. So sollte man Menschen, die dies sind, dann begegnen.
Und dann gibt es, radikaler noch, die christliche Aufforderung zur Liebe. Jesus hat sie gelebt. Wie? Er geht sensibel, aufmerksam, ja zärtlich mit Menschen um, er heilt und vergibt, er stellt die Leidenden in den innersten Kreis, macht sie zum Zentrum seiner Worte und Taten. Ja, er erwartet gerade von den Außenseitern entscheidende Inhalte: Die Betroffenen haben den Nicht-Betroffenen etwas zu sagen!
Und Jesus riskiert in seinem helfenden Handeln, selbst Außenseiter und Bedrängter zu werden. Jesu Nonkonformismus und sein Dissidententum um der Liebe willen kommen vielen, die etwas zu sagen haben, als gefährliche Verrücktheit vor und bringen ihn schließlich ans Kreuz. Fundiert aber ist dies alles in Jesu Gottesbeziehung, dessen Gnade alle, wirklich alle bedürfen.
Wer diese "Mehr der Liebe" nicht schafft, sollte sich wenigstens daran erinnern, was kurz vor der "Goldenen Regel" bei Matthäus steht: "Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?" (Matthäus 7,1-3).
Was bedeutet das für eine konkrete Pfarre? Sie muss sich auch hier, wie überhaupt, fragen: Wie muss jemand werden, dass er bei uns das Evangelium Jesu Christi kennen lernen kann? Wie „wir“? Welche Schranken errichten wir für Gottes Liebe? Wie selbstgerecht, erhaben und unaufmerksam sind wir?
"Wenn eine Person homosexuell ist und den Herrn sucht und guten Willens ist –wer bin ich, dass ich über sie urteile?", so Papst Franziskus auf dem Rückflug von Rio de Janeiro. Das wäre doch schon mal ein Anfang für eine Pfarre.
Übrigens: Menschen haben immer mehr als ein Merkmal. Sie sind das eine, aber auch vieles andere. Man soll und darf sie nie auf ein Merkmal festlegen. Genau genommen ist das übrigens für uns alle die einzig Hoffnung.