Gendermedizinerin und „Wissenschaftlerin des Jahres 2016“, Alexandra Kautzky-Willer am Arbeitsplatz
Gendermedizinerin und „Wissenschaftlerin des Jahres 2016“, Alexandra Kautzky-Willer am Arbeitsplatz
Männer und Frauen sind unterschiedlich. Das dürfte wohl jedem klar sein. Neu scheint diese Erkenntnis im medizinischen Bereich. Denn das typische Bild eines Mannes beherrscht noch immer Studien- und Forschungsergebnisse. Das Sommergespräch von Georg Gatnar mit Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer.
Samstagabend. Anstatt mit Freunden auszugehen oder sonstigen Freizeitaktivitäten zu frönen, sitze ich zuhause und genieße Ruhe und Stille. Zu viel Stille, reflexartig schalte ich meinen Fernseher ein.
Zufällig läuft eine Reportage über die Pharmaindustrie und Nebenwirkungen bei Medikamenten. In einem Nebensatz höre ich: „Frauen haben bei Medikamenten 70 Prozent mehr Nebenwirkungen als Männer.“ Eine erschreckend hohe Zahl, oder stellen Sie sich mal vor, 70 Prozent weniger Gehalt oder Pension zu bekommen. Das wäre ein Missstand.
Ich beginne zu recherchieren und stoße auf die Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer. Sie ist Professorin an der Universitätsklinik in Wien und befasst sich mit der Endokrinologie. Laienhaft ausgedrückt ist das die Lehre der Hormone. 2010 wurde sie erste Professorin für Gendermedizin in Österreich und für ihre Arbeit in diesem Bereich zur „Wissenschaftlerin des Jahres 2016“ ausgezeichnet.
Womit befasst sich die Gendermedizin?
Die Gendermedizin befasst sich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Männern und Frauen. Es geht um Prävention, Diagnostik und Behandlung.
Unterschiede finden sich in allen Organen, auch in der Zellebene. Zum Beispiel durch Vererbung der Gene und Geschlechtschromosomen, aber auch über die Sexualhormone.
Sie sind Hormonexpertin. Was bewirken diese Sexualhormone, das Östrogen bei den Frauen und das Testosteron bei den Männern?
Die Unterschiede sind vor allem in der Geschlechtsreifephase zwischen Pubertät und Wechsel. Die Krankheitsmuster sind hier verschieden.
Nach dem Wechsel lässt die Hormonproduktion nach, also weniger Hormone; auch bekannt als Menopause bei der Frau und Andropause beim Mann.
Das Geschlecht beeinträchtigt also maßgeblich, ob und wie wir krank werden?
Ja. Frauen bekommen zum Beispiel mehr Autoimmunerkrankungen, sind aber weniger anfällig für Infektionskrankheiten. Östrogen aktiviert das Immunsystem, das Testosteron unterdrückt es. Aber zu starke Abwehrkräfte können körpereigene Gewebe angreifen und zerstören. Männer hingegen bekommen früher und häufiger Diabetes oder einen Herzinfarkt. Frauen sind dafür später dran.
Sexualhormone sind eben nicht nur für die Fortpflanzung da, sondern beeinflussen den Energiehaushalt, den Stoffwechsel, das Immunsystem, Herzkreislauf und eigentlich alles.
Werden diese Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Behandlung wahrgenommen?
Noch viel zu wenig. Hier geht es vor allem um die Diagnostik.
Ein Beispiel: der Herzinfarkt. Frauen haben dabei nicht die typischen Brustschmerzen, der Schmerz kann im Oberbauch sein oder sogar im Kieferbereich. Im Spital kann es dann zu einer Fehldiagnose kommen.
Bei Depressionen werden wiederum die Männer nicht schnell genug behandelt. Obwohl Männer eine viel höhere Selbstmordrate haben, wird bei Frauen Depression doppelt so häufig diagnostiziert. Dieses Bild passt nicht zusammen.
Ein Ergebnis ihrer Forschung: Frauen haben 70 % mehr Nebenwirkungen bei Medikamenten im Vergleich zu Männern. Erschreckend?
Der Mann galt bisher als Prototyp: 35 Jahre alt, 80 Kilogramm schwer, weiße Hautfarbe und männlich. Auf diesem Typ basieren die meisten Leitlinien unserer medizinischen Studien. Danach richten sich auch die Pharmaindustrie und die Dosierung der Medikamente.
In der Wirtschaft und im Marketing gibt es schon längst Zielgruppenmanagement, die auf beide Geschlechter abzielt. In der Medizin bessert es sich, wird aber noch vernachlässigt.
Was kann Frau tun?
Nachfragen: Ob die Dosierung passt, eine halbe Pille könnte genügen. Frauen nehmen öfter Medikamente, auch hier ist daher wichtig, sich über die Wechselwirkungen zu informieren. Ob man ein Medikament wieder absetzen kann, Stichwort Abhängigkeit. Ob es Nebenwirkungen beim Zyklus gibt. Wenn man Beschwerden hat, bitte hartnäckig sein. Es gibt fast immer die Möglichkeit, ein anderes Medikament zu nehmen.
Werden Frauen nicht ernstgenommen?
Oft ist es keine Böswilligkeit von ärztlicher Seite, es sind oft Missverständnisse oder Zeitmangel.
Zudem das Rollenbild: Männer gehen viel seltener zum Arzt, erst wenn etwas repariert werden muss. Der Nachteil: Die Krankheiten werden spät entdeckt. Der Vorteil: Krankheiten sind leichter erkennbar. Weil dann klar die Symptome beschrieben werden können, führt das zu einer besseren Behandlung.
Frauen gehen wiederum öfter zur Vorsorge. Weiters haben Frauen mehr Schmerzzustände, bedingt durch Hormonschwankungen. Deshalb ist Migräne auch häufig zyklusabhängig und rund um die Menopause verstärkt. Daraus ergibt sich ein Klischee: Die Frau hat immer Migräne, die Mutter aller Ausreden, und geht öfter zum Arzt bei kleineren Schmerzen. Der Mann erst dann, wenn es wichtig ist.
In der Medizin stößt man an menschliche Grenzen und wird mit dem Tod konfrontiert. Wie gehen Sie damit um?
Ich glaube an Gott und bin römisch-katholisch. Als Jugendliche bin ich in die Hofzeile gegangen, eine Klosterschule. Es war eine sehr schöne Zeit. Der Glaube ist wichtig, gibt Selbstvertrauen und Rückhalt. Ich glaube auch, dass Papst Franziskus dialogbereiter ist, was die Rolle der Frau betrifft.
Mir gibt der Glaube eine gewisse Stärke und Kraft. Studien besagen zudem, dass Gläubige in schweren Lebensphasen mehr Selbstheilungskräfte mobilisieren können.
Der Philosoph Schopenhauer sagte: „Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ Wie lautet Ihre Definition von Glück?
Dieser Ausspruch trifft den Nagel auf dem Kopf. Gesundheit ist ganz wesentlich als Basis. Aber auch die seelische und sexuelle Gesundheit gehört laut der Weltgesundheitsorganisation dazu.
Zudem wichtig: Menschen, die man liebt. Das ist meine Familie.
zur Person

Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer, 55, ist Professorin an der Universitätsklinik in Wien und befasst sich mit der Endokrinologie.
2010 wurde sie erste Professorin für Gendermedizin in Österreich und für ihre Arbeit in diesem Bereich zur „Wissenschaftlerin des Jahres 2016“ ausgezeichnet.
Als Kind träumte Kautzky-Willer davon, gehörlose Kinder wieder hörend zu machen. Der Vater war Direktor des Gehörloseninstituts, die Mutter Sonderschullehrerin. Diesen Traum lagert sie aus und heiratet 1988 Michael Kautzky. Er ist Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten am AKH Wien und beschäftigt sich mit Hörprothesen. Ihr jetziger Traum: eine wichtige Entdeckung aus der Genderperspektive im Stoffwechselbereich.
Warum Frauen schlecht behandelt werden, das beantwortet die Gendermedizinerin Alexandra Kautzky-Willer
am Montag, 10. Juli, um 17.30 Uhr im Sommergespräch auf radio klassik Stephansdom. Wiederholung am Sonntag, 16. Juli, um 17.30 Uhr.
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