Asylpraxis: Wo hört die Freiwilligkeit auf und beginnt der Zwang?
Asylpraxis: Wo hört die Freiwilligkeit auf und beginnt der Zwang?
Wer glaubt, man kann Immigranten so klar in zwei Gruppen einteilen – in die „wirklich Verfolgten“ und die „Asylbetrüger“ –, der hat keine Ahnung von der Vielschichtigkeit des Lebens und der persönlichen Schicksale.
Kardinal Schönborn hat in diesen Tagen seiner Mutter zum 97. Geburtstag gratuliert (auch wir wünschen der langjährigen SONNTAG-Leserin alles Gute und Gottes Segen!). Dabei hat er an ein Wort von ihr erinnert: „Niemand verlässt freiwillig seine Heimat.“
Genau genommen stimmt das natürlich nicht. Viele Menschen haben freiwillig ihre Heimat verlassen – aus Abenteuerlust, um zu studieren, auf Arbeitssuche.
Zur Zeit leben in Österreich etwa 220.000 Deutsche oder 15.000 Schweizer. Sie sind sicher nicht alle gezwungen worden, ihre Heimat zu verlassen.
Aber wo hört die Freiwilligkeit auf und beginnt der Zwang? Was ist mit denen, die noch nicht verfolgt werden, aber nicht warten wollen, bis etwa die Islamisten auch bis in ihr Dorf kommen? Was ist mit dem, der vor der Hungersnot flieht, die er vielleicht ja doch überleben würde? Was ist mit dem jungen Pakistani, für den das Dorf alle Ersparnisse zusammenlegt, um ihn nach Europa zu schicken, damit er von dort aus seine Verwandtschaft am Leben erhalten kann?
Und die, deren Zukunftsaussichten zuhause einfach nur deprimierend sind? Die, deren Vorstellung einer guten Zukunft zuhause nicht eingelöst werden können? Natürlich kann Österreich oder auch Europa nicht alle aufnehmen, die von daheim wegwollen.
Aber wer glaubt, man kann Immigranten so klar in zwei Gruppen einteilen – in die „wirklich Verfolgten“ und die „Asylbetrüger“ –, der hat keine Ahnung von der Vielschichtigkeit des Lebens und der persönlichen Schicksale.
Eine unerbittliche Asylpraxis entspricht daher ebenso wenig dem Leben wie eine völlige Öffnung aller Grenzen. Den Menschen wird man damit nicht gerecht. Auch den Österreichern nicht, die nämlich in der Regel sehr umgängliche Leute sind, die genau wissen, dass es nicht nur schwarz oder weiß gibt.
Der Autor:
Dr. Michael Prüller ist Kommunikationschef der Erzdiözese Wien und Geschäftsführer der St. Paulus-Medienstiftung.
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