Am 9. November 1989 geschah das Unglaubliche. 28 Jahre lang trennte sie Deutschlands größte Stadt – 43 Kilometer lang, 3 Meter 60 hoch, 1 Meter 20 breit, gesichert von schwer bewaffneten Grenzsoldaten.
Auf einmal war die Mauer Geschichte. DDR-Bürger erlangten die lang ersehnte Reisefreiheit. Mit dem Fall wurde das Ende des Arbeiter- und Bauernstaates eingeleitet.
Als Wunder feierten Ost und West den Niedergang des „Eisernen Vorhangs“ vor 30 Jahren. Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 leitete die Wiedervereinigung Deutschlands ein.
1989 gehörten von den 17 Millionen Einwohnern etwa 5 Millionen zur Evangelischen Kirche. Rund eine Million Menschen bekannten sich vor allem in bestimmten Regionen wie Thüringen und der Oberlausitz zur katholischen Kirche.
Der SONNTAG hat Katholiken aus der ehemaligen DDR befragt, welche Erinnerungen sie an diese Zeit haben und wie sie ihren Glauben in einem sozialistischen Einheitsstaat gläubig leben konnten.
Unsere Interviewpartner sind heute in verschiedenen Bereichen der Erzdiözese Wien tätig.
„Ich komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt“, sagt Thomas Wisotzki. Er ist Jugendseelsorger im Südvikariat der Erzdiözese Wien. Aufgewachsen ist er aber in Rostock in der Deutschen Demokratischen Republik. 40 Jahre von 1949 bis 1989 gab es sie, gegründet nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs als sozialistischer Modellstaat.
Wisotzki, der in den 1970er Jahren in der DDR aufwächst, ist der einzige Katholik in seiner Rostocker Schulklasse in dieser Zeit. Seine Mutter stammt aus Schlesien und gehört zu den über vier Millionen Heimatvertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der späteren DDR stranden.
Daher gehört Thomas zur katholischen Minderheit. „Es war zu Fronleichnam klar, jeder nimmt sich einen Urlaubstag, weil es kein staatlicher Feiertag war und die Schüler legten den Lehrern einen Zettel vor und bekamen frei“, schildert er. Religionsunterricht erhalten Thomas und sein Bruder in der Pfarre. „Mehrmals wöchentlich haben wir uns da zum Austausch über den Glauben getroffen, aber auch Musik gehört oder Fußball gespielt.“
Christsein in Gemeinschaft erfährt Thomas trotz Kommunismus, das prägt ihn so, dass er später Priester werden möchte.
„Wichtig in der DDR war es, immer auf der Hut zu sein, was man in der Schule sagt“, erinnert er sich, „Ich bin mit so einer Art Doppelzüngigkeit aufgewachsen, meine Eltern haben mir gesagt: ‚Du musst aufpassen, was du wem erzählst, denn du kannst nicht jedem vertrauen.‘“
Beim Spielen mit anderen Kindern in deren Wohnungen bemerkt er selten, dass dort „ein Kreuz an der Wand hängt“. Zwei Verwandte flüchteten noch vor Beginn des Mauerbaus 1961 in die Bundesrepublik Deutschland. Die Wisotzkis erhalten von ihnen regelmäßig Briefe und Pakete aus „dem Westen“.
Mehr über das Leben in der BRD bekommt Thomas via Fernsehen und Radio mit, obwohl „Westfunk zu hören oder zu sehen“ verboten ist. Ein Telefon hat die Familie nicht. „Die Welt hinter dieser Mauer war unerreichbar“, erinnert sich Wisotzki. Nicht nur unerreichbar, sondern auch gefährlich: „Es gibt eine Grenze, die man nicht überschreiten kann, die tödlich sein kann. Das löst etwas in einem aus, das man sein Leben lang nicht vergisst.“
Jeder kenne Berichte und Erzählungen von missglückten Fluchtversuchen aus der DDR, weiß der ehemalige Rostocker.
Für ihn als Katholik mit dem Wunsch, Priester zu werden, ist es nicht möglich, das Abitur auf dem normalen schulischen Weg abzulegen. Thomas wird vorerst Koch in der Tourismusregion an der Ostsee. Eine große Herausforderung in einer Mangelwirtschaft, wo grundlegende Lebensmittel auch fehlen können.
„Es konnte sein, dass es eine Woche lang nur Krautsalat gab, dann kamen mal Gurken oder Tomaten, darauf musste man im Speiseplan reagieren.“ Aber eine Soljanka, „eine Brühe mit Einlage, die gab’s in jeder Gaststätte“, so Wisotzki.
Das Abitur macht er 1989 im Norbertinum in Magdeburg, einer Einrichtung für katholische Priesteramtskandidaten im Osten, die von der westdeutschen Bischofskonferenz getragen wird.
Thomas Wisotzki erlebt die Wende im Herbst ’89 hautnah: „Im September und Oktober sind immer mehr Menschen montags in Leipzig auf die Straße gegangen. Wir Priesteramtskandidaten haben in Gebetskreisen und Friedensgottesdiensten unsere Angst und Stimmung ausgedrückt.“ Wisotzki und seine Kollegen fahren nach Erfurt. „Dort waren wir am Anfang wenige auf der Straße, sind aber immer mehr geworden, unsere Waffe war halt die Kerze in der Hand.“
Den 9. November 1989, als die Mauer fällt und ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern die lang ersehnte Reisefreiheit gewährt wird, bekommt Thomas Wisotzki nur am Rande mit: „Meine Seminarkollegen haben gesagt, ich soll mir das mit ihnen im Fernsehen ansehen, hielt es aber für einen Witz.“ Erst am Morgen wird es ihm klar, denn „die Medien berichteten immer noch davon“.
Thomas Wisotzki nützt am 11. November dann die neue Reisefreiheit und fährt nach Berlin. In der Nähe der Bornholmer Straße steht er auf einer Brücke zum ersten Mal in seinem Leben auf westdeutschem Gebiet. „Es war etwas Beeindruckendes, ich konnte für einen Bruchteil eines Augenblicks stehenbleiben und es genießen.“
Traurig macht ihn später aber der Blick in die geöffneten Akten der Staatssicherheit. „Ich habe mich geärgert, dass ich das getan habe, weil ich natürlich Namen von Menschen gelesen habe, von denen ich nicht vermutet hatte, dass sie uns bespitzelten.“ Wisotzki beendet erfolgreich seine Ausbildung zum Priester, sein Primizspruch lautet: „Mit meinem Gott überspringe ich Mauern.“
„Mein Heimatort Schleid in der Rhön war der westlichste Punkt des Ostblocks“, erläutert Christian Herrlich, der in der Verwaltung des Stephansdoms arbeitet.
Nach Österreich kam er nach der Wende, war einige Zeit im Stift Geras, arbeitete im Einzelhandel und ist nun in der Dompfarre St. Stephan tätig.
Herrlichs Heimatregion ist zu DDR-Zeiten eine kleine katholische Enklave im sogenannten Sperrgebiet, der Außengrenze zur Bundesrepublik Deutschland, in nur fünf Kilometern Entfernung.
„Hier gab es keine Mauer, aber einen Zaun“, schildert Herrlich. 450 Einwohner hat das Dorf zu Zeiten des Kommunismus, jede Familie ein Häuschen, „wir hatten einen Garten dabei und zwei Schweine im Stall, sodass wir nicht ganz auf die öffentliche Versorgung angewiesen waren“, ein Vorteil in einer Mangelwirtschaft.
Als Katholik wird Christian in der Schule „in Ruhe gelassen“, aber es gibt Phasen, wo er kämpferisch agiert. „Im Musikunterricht mussten wir die Internationale singen, zum Test wurden die Katholiken aber gebeten, die dritte Strophe zu singen, die lautet: ,Es rettet uns kein höher Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun.‘
Wir haben uns natürlich geweigert, diese Strophe zu singen, dann haben wir einen Fünfer bekommen, sind aber mit mehr Achtung aus dem Unterricht gegangen.“
Ein weiterer Umstand, dem sich die überzeugten Jungkatholiken in der DDR verweigern, ist die staatliche Jugendweihe. Sie wäre „Ausdruck der Überzeugung gewesen, dass es keinen Gott gibt, ein Ersatzritus und eine Gleichschaltung mit dem System. Da haben wir uns lieber still verhalten“, erläutert Herrlich.
Christian erhält die katholische Firmung. Da aber die Jugendweihe Voraussetzung ist, Abitur machen zu können, ist sein Wunsch, Theologie zu studieren, nicht möglich, er geht in die Polytechnische Oberschule und wird Einzelhandelskaufmann, „Fachverkäufer für Rundfunk, Fernsehen und Elektroakustik“, so Herrlich. Daher hilft er auch manchen Bekannten beim Einstellen des „Westfernsehens“.
Die Familie hat ein Auto, es ist aber kein Trabant, sondern ein Wartburg, „der war eine Klasse besser als ein Trabi“, schmunzelt er und erwähnt, dass folgender Witz die Runde machte: „Der Trabant 601 heißt deshalb so, weil ihn 600 bestellt haben und nur einer ihn bekommen hat“, betrugen die Wartezeiten auf ein Auto doch rund 15 Jahre.
Den 9. November 1989 erlebt Christian Herrlich in Magdeburg im katholischen Norbertinum, da er dort Abitur machen kann. „In den Nachrichten habe ich die Öffnung der Grenze am Abend mitbekommen. Manche Mitschüler waren sehr aufgeregt und wollten die Reisemöglichkeit in den Westen sofort nutzen, ich war da ziemlich entspannt und bin erst vier Wochen später einmal nach Hannover gefahren.“
Die Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, beantwortet er eindeutig: „Ja. Es gibt wenige Länder auf der Welt und zur damaligen Zeit, wo an der Grenze auf die eigene Bevölkerung geschossen wurde und Menschen auch grundlegender Menschenrechte beraubt waren, wie freier Meinungsäußerung und Selbstbestimmung. Dazu kam die Willkür, es war in vielen Bereichen unberechenbar, weshalb und wie schnell jemand verhaftet wurde.“
Christian Herrlich läuft nicht Gefahr, in Ostalgie zu verfallen, kritisch sieht er die Entwicklung in seiner Ex-Heimat: „Ich habe den Eindruck, dass die Herzen und die Seelen der Menschen leer waren. Man hat sie mit Konsum gefüllt, es ist nichts hinterher gekommen, von den großen, demokratiebewegenden Gedanken, die man damals hatte.“
Einblick in die Akten der Staatssicherheit hat er bis heute nicht genommen, „Freunde von mir haben das gemacht und waren zutiefst enttäuscht darüber, wer aus ihrem Umfeld Informationen geliefert hat. Die knappern noch heute daran, ich will mir das noch ein bisschen ersparen.“
Die Wege der Liebe führen Christine Mitter 1987 aus der DDR nach Wien. Bei einem Urlaub in der „befreundeten sozialistischen Tschechoslowakei“ verliebt sie sich in einen Österreicher, heiratet und darf, da die DDR „gute politische Beziehungen zu Österreich hat“, schon vor dem Mauerfall einen Reisepass beantragen. Ihr wird erlaubt, aus dem Land ausreisen.
Mitter arbeitet heute in der „Dialogstelle für Ausgetretene“ der Erzdiözese Wien. „Ich stamme aus dem Tal der Ahnungslosen“, schmunzelt Christine Mitter. Es ist das Gebiet der Oberlausitz in Görlitz, nahe der polnischen Grenze.
„Westfernsehen war uns nicht möglich, manchmal haben wir im Radio mit sehr schlechtem Empfang gehört“, daher bekommt ihre Familie wenig vom Leben im „anderen Deutschland“ mit. Ihre Mutter flüchtete nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien, der Vater aus dem Sudetenland, sie lernen sich in Herrnhut kennen. „Wir waren als Katholiken eine Minderheit, die katholische Gemeinde bestand nur aus ehemaligen Flüchtlingen“, schildert Mitter.
Die Eltern, fünf Geschwister, eine Oma und ein Onkel leben gemeinsam in einem kleinen Haus mit Garten. Ein Vorteil in der Mangelwirtschaft der DDR, „wir haben Erdäpfel, Getreide angebaut und hatten Schafe und Kaninchen“, erinnert sie sich und dass sie sich oft für die ganze Familie bei den Geschäften anstellte und einiges erlebte: „Gab es Bananen und das war selten, verlangte ich neun Stück und musste alle Namen der Familienmitglieder nennen, um sie zu bekommen“.
Viele Gebrauchsgüter werden auch vorsichtshalber eingekauft, um dann mit den Nachbarn getauscht zu werden: „Man war immer auf der Jagd nach Lebensmitteln“, so Mitter. Nicht nur das, auch Langspielplatten oder Bücher gibt es selten.
Da ist es hilfreich, dass die Heimatpfarre eine Patenschaft mit einer katholischen Pfarre in Nürnberg hat, „die sind oft zu uns gekommen und haben uns auch mit Büchern und Zeitschriften versorgt, die sie geschmuggelt ins Land brachten“.
Mit den westdeutschen Jugendlichen geht es auch auf Urlaub in den sozialistischen „Bruderstaat“ Ungarn. Die katholische Heimatpfarre bietet den ostdeutschen Jugendlichen auch Platz und Raum, „vieles kritisch zu hinterfragen“, erinnert sich Christine Mitter.
Die Themen damals, kaum andere als heute: Umwelt, Frieden und Gerechtigkeit. Von Papst Johannes Paul II., der aus dem nahen Polen stammt, bekommen die Katholiken in der DDR „wenig mit“, so Mitter, die in einem „Volkseigenen Betrieb“ den Beruf der Bürokauffrau erlernt.
Nachdem Christine Mitter 1987 die DDR durch die Heirat verlässt, verfolgt sie in Österreich die Entwicklungen in den kommunistischen Staaten. Die Perestroika, den von Michail Gorbatschow eingeleiteten Prozess zu Umbau und Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion und deren Auswirkungen auf die anderen kommunistischen Staaten, das 40-jährige Bestehen der DDR, den Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer am 9. November 1989. Diesen Abend verbringt Christine Mitter mit Freunden in einem Wiener Lokal.
Erst als sie am nächsten Morgen um sieben Uhr früh die Radionachrichten einschaltet, hört sie vom Fall der Berliner Mauer: „Es war für mich unfassbar, dass es so einfach und schnell geht. Dass irgendetwas passieren wird, hat sich abgezeichnet, aber es ist für mich heute noch ein Wunder, dass es so gewaltlos passiert ist.“
Mehr über das Leben in der ehemaligen DDR und den Blick heute darauf hören Sie von den Menschen dieser Story, hören Sie unterdem Titel: "Als die Mauer fiel" in den Lebenswegen auf radio klassik Stephansdom,
am Freitag, 8. November, 17:30 Uhr,
DaCapo: Sonntag, 10. November, 17:30 Uhr
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