Zulehner: Religiöse Menschen, bei denen ihre Religion nicht egozentriert verdorben ist, sind kraftvoll solidarisch liebende Menschen
Zulehner: Religiöse Menschen, bei denen ihre Religion nicht egozentriert verdorben ist, sind kraftvoll solidarisch liebende Menschen
Wiener Theologe in neuem, interdisziplinärem Sammelband: Ängste entsolidarisieren. Zu nötigem hohem "Grundwasserspiegel des Vertrauens" können Religionen viel beitragen.
Die Menschheit steht vor "Mega-Challenges" - Herausforderungen, gegenüber denen die Corona-Pandemie und ihre Zähmung "nur ein Vorgeschmack" sind. Für deren Meisterung braucht es nach den Worten des Wiener Theologen "Menschen, die sich nicht durch ihre Ängste entsolidarisieren lassen". Es brauche vielmehr einen hohen "Grundwasserspiegel des Vertrauens in den Kulturen und Gesellschaften", zu denen "ein wahres Christentum" und "wahre Religionen" vieles beitragen können. "Es sind Religionen, die sich nicht zur Legitimation populistischer Politik missbrauchen lassen, sondern in ihrer Kraft, die Angst vor Tod und Verletzlichkeit zu zähmen, solidarische Menschen hervorbringen", so der Religionssoziologe und Werteforscher.
Zulehner äußerte sich in einem kürzlich erschienenen Sammelband "Weltbild für den blauen Planeten", in dem er und elf andere Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen in einem gemeinsamen Manifest erklären: "Um eine nachhaltige Welt zu erreichen, müssen wir zuerst unser Denken über die Welt verändern." Darunter sind die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer, Gemeinwohl-Ökonom Gerd Hofielen, der Theologe Stefan Zekorn von der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz und die Systemwissenschaftlerin und "Club of Rome"-Angehörige Petra Künkel. Sie alle wenden sich gegen ein "Weltbild, das mechanistisch und rationalistisch ist, auf den Eigennutz und auf Effizienz hin orientiert".
In seiner Überzeugung in die positive Gestaltungskraft des Glaubens räumt Paul Zulehner ein, dass derzeit manche großen Religionen der Welt in einer Krise seien. "Die einen, weil sie der Versuchung erliegen, auf Gewalt zu setzen statt auf Liebe, auf nationalen Egoismus statt auf Befreiung aus dem Ichgefängnis"; die anderen, weil sie "die religiöse Tradition auf eine geheimnislose autoritäre Moral reduzieren". Jedoch: Wenn es den Religionen gelingt, ihre "mystagogische Kraft" wiederzugewinnen, werden sie laut dem Theologen "ein Segen für eine Welt sein, die vor schier unbezwingbaren Herausforderungen steht".
Welche Mega-Challenges das sind, listet Zulehner auf Basis einer Befragung auf, die er heuer im Rahmen des von Papst Franziskus ausgerufenen weltkirchlichen synodalen Prozesses unter Mitgliedern der Katholischen Aktion Österreich (KAÖ) durchführte und die vorausgegangene Studien bestätigt hätten. Top-Thema ist dabei die Klimafrage, die die Weltgemeinschaft mehr fordern werde als die Pandemie. "Sie zu meistern, wird wesentlich mehr an konsequentem Einsatz von finanziellen und ideellen Ressourcen für deren Bewältigung und für die Zukunft der nachfolgenden Generationen erfordern", ist Zulehner mit den befragten Laienchristen überzeugt. Notwendig seien ein erneuertes Verständnis von "Natur" und "Schöpfung" als "Mitwelt" und "nicht als nur nützliche Umwelt" sowie die Entwicklung eines "erdverträglichen" Lebensstils.
Weitere die Zukunft prägende Großthemen sind laut Zulehner Friedenssicherung, Migration und Flucht, die sich neu stellende soziale Frage, die allesamt eng mit globaler Verteilungsgerechtigkeit verknüpft seien. Zunehmend ins Blickfeld gerate in Europa das Absinken eines "Wertegrundwasserspiegels", das es zu verhindern gelte: Europas Geschichte habe eine gefestigte Demokratie sowie den Sozialstaat hervorgebracht, "um diese Errungenschaften muss auch künftig gerungen werden". Denn, so der Theologe: Die Zahl jener Menschen nehme zu, "welche die als Last empfundene Freiheit wieder loswerden wollen. Die Flucht vor der Freiheit gibt Populisten Auftrieb."
Die neuere interdisziplinäre Forschung zeige, dass es in den westlichen Kulturen ein wachsendes Potenzial von Ängsten gibt, wies der Werteforscher hin. Angst jedoch "entsolidarisiert", so die Grundthese. Anschaulich sei dies etwa nach dem unkontrollierte Ankommen vieler Schutzsuchender im Herbst 2015 geworden. Wenn die Angst überwiegt, dann greifen die Verängstigten zur Selbstverteidigung, erklärte Zulehner. Beobachtbar seien Strategien der Gewalt, der Gier und der Lüge.
Die für Zulehner zentrale Frage: Wie kann man, ohne böse zu werden und die Menschlichkeit zu verlieren, in der Angst bestehen? Seine Antwort: Es braucht eine Pädagogik des Vertrauens in Verbindung mit einer Politik, welche die Angst nicht populistisch mehrt, sondern durch kluge Maßnahmen eine "Kultur des Vertrauens" stärkt. Spätestens hier kämen die Religionen ins Spiel. Denn Religionsstudien zeigten, dass vor allem das Wissen um die Einheit aller in dem einen Gott und damit die gleiche Würde aller bei Glaubenden gut aufgehoben ist. "Wer das himmlische Brot isst, kann nicht anders, als das irdische Brot zu teilen", nahm der Theologe Bezug auf Gottesdienstfeiern. "Religiöse Menschen, bei denen ihre Religion nicht egozentriert verdorben ist, sind kraftvoll solidarisch liebende Menschen", hielt Zulehner fest.
Das Buch "Weltbild für den Blauen Planeten: Auf der Suche nach einem neuen Verständnis unserer Welt" erschien im deutschen Continentia Verlag, umfasst 308 Seiten und kostet EUR 24,90.